Auf Befehl des Königs
von selbst aus nach dem Band, der ihr als Erster ins Auge gefallen war. Homers Ilias.
"Abt Godfrey hat mir Anweisung erteilt, Euch jedes Buch zum Lesen zu geben, das Ihr wünscht."
Mit großen Augen verfolgte sie, wie der Mönch auf eine Trittleiter stieg und das umfangreiche Werk von dem Bord holte, auf den Tisch legte und beiseite trat. Marguerite schlug voller Ehrfurcht den Lederumschlag auf. Während ihrer Studien hatte sie Traktate und Auszüge der Werke großer Philosophen und Dichter gelesen, aber noch nie hatte sie das Gesamtwerk eines weltberühmten Dichters zu sehen bekommen. Der Besitz eines solchen Schatzes war selbst für ihren wohlhabenden Vater unerschwinglich.
Die Seiten waren in geschwungenen Lettern beschrieben, die Kapitelüberschriften mit bunten Ornamenten verziert. Beinahe jede Seite wies kunstvolle Darstellungen zu den einzelnen Begebenheiten der griechischen Mythologie auf. Achilles' Kampf gegen die Trojaner. Der Trojanische Krieg, welcher so vielen tapferen griechischen und trojanischen Männern das Leben gekostet hatte. Die Geschichte von Helena, der schönsten Frau der Antike.
Wie benommen hob Marguerite den Kopf und ließ den Blick über die wertvollen Schätze der Weltliteratur schweifen. Sie wagte kaum zu glauben, dass ihr all diese Werke zum Greifen nah waren. Bruder David stand neben ihr, und dann entdeckte sie Edmee, die immer noch scheu an der Tür stand.
"Komm zu mir, Edmee", sagte sie begeistert und winkte ihre Zofe zu sich. "Ich lese dir etwas aus der Weltliteratur vor, von deren Schönheiten du noch nie gehört hast."
"Ihr könnt Griechisch lesen, Mylady?", fragte der Mönch andachtsvoll.
"Ja, Bruder, ich habe einige Sprachen gelernt. Und du?"
"Leider nein. Ich habe schon Schwierigkeiten, Latein zu lesen und zu verstehen. Aber Griechisch ist mir ein Buch mit sieben Siegeln", antwortete er beschämt. "Unser hochwürdiger Abt hofft zwar immer noch, dass ich es lerne, aber die schwierigen Schriftzüge und Wörter wollen mir nicht in den Kopf."
"Sprichst du französisch und normannisch oder nur englisch?"
"Fremde Sprachen waren immer meine Schwäche, Mylady. Meine Stärke liegt in Zahlen, ich kann in Windeseile jede Summe addieren und subtrahieren, aber Lesen und Schreiben ist mir ein Graus."
Marguerite lachte. Sie wusste, dass ihre Bildung ungewöhnlich war, zumal für eine Frau, deren Talente sich normalerweise auf den Umgang mit Nadel und Faden, im Höchstfall auf die Ausbildung in der Sangeskunst beschränkten. Doch die ehrgeizigen Pläne ihres Vaters, sie zur Gefährtin eines Königs zu machen, hatten ihr Zugang zu alten und neuen Sprachen verschafft und ihr damit die großen Meisterwerke erschlossen. Dieser Teil ihrer Erziehung hatte schon immer einen ungeheuren Reiz auf sie ausgeübt, und ihr Wissen erfüllte sie mit Stolz.
"Würde es dich stören, wenn ich laut daraus vorlese? Ich hatte lange keine Gelegenheit, griechisch zu lesen und zu sprechen, und heute bietet sich bereits zum zweiten Mal Gelegenheit dazu."
"Aber nein, Mylady. Ich bin angewiesen, Euch zu Diensten zu sein, und höre Euch gerne zu."
Marguerite wusste, dass Orrick ihr dieses einmalige Erlebnis ermöglicht hatte, hochrangige Werke der Weltliteratur kennen zu lernen. Aber wieso hatte er ihre Leidenschaft für dieses Wissensgebiet erahnt, da er doch so wenig über sie wusste? Kein Wort hatte er davon erwähnt, als er sie bat, ihn auf die Reise in die Abtei zu begleiten – er hatte lediglich von seinem Wunsch gesprochen, ihr die weitere Umgebung von Silloth und seine Ländereien in der Verwaltung des Klosters zu zeigen. Nachdem sie monatelang nicht aus der Burg und deren Umland herausgekommen war, hatte sie die Gelegenheit gerne ergriffen, mit ihm zu reiten.
Edmee setzte sich neben sie, der Ordensmann nahm in dem Lehnstuhl auf der anderen Seite des Tisches Platz, und Marguerite schlug das Buch auf und begann, den ersten Gesang der Ilias in Griechisch zu lesen. Sie übersetzte den Text sogar ins Englische, damit ihre Zuhörer die Geschichte verstanden.
Als Orrick zwei Stunden später die Bibliothek betrat, waren ihre Zuhörer längst eingeschlafen, während Marguerite unbeirrt weiterlas.
18. Kapitel
"Woher habt Ihr das gewusst?"
"Was denn, Marguerite?"
"Meine Liebe zur Literatur?"
Er trat näher und beugte sich über sie. "Es empfiehlt sich stets, die Schwächen und Stärken seines Gegners zu kennen."
"Seht Ihr in mir einen Feind?", fragte sie, ohne ihn anzusehen. Plötzlich hatte sie
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