Auf & Davon
dem ledergebundenen Wälzer mit Poes gesammelten Werken herum, den Ross gefunden hatte. Ross saß mit Stift und Papier bereit, um Notizen zu machen, während Zane nach Erzählungen suchte, die zu ihren Fällen passten.
„ Die Morde in der Rue Morgue“, sagte er leise .
„Die Gerichtsmedizinerin“, äußerte Sears und verzog das Gesicht.
„Richtig. In der Geschichte wird der einen Frau praktisch der Kopf abgetrennt. Die andere wird in den Kamin gestopft.“ Zane schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.
„Hier ist der Schauplatz das Entscheidende, richtig?“, fragte Ross und machte sich eine Notiz.
Zane nickte und ging weiter zum nächsten Fall. „ Ligeia“, verkündete er. „In der Geschichte stirbt als erstes die Ehefrau“, sagte er hölzern. Er zog eine Grimasse und las weiter. „Der Mann in der Geschichte heiratet wieder, aber er ist davon überzeugt, dass seine neue Frau auch die alte ist, ihre Reinkarnation oder so was, und er vergiftet seine neue Frau langsam, bis sie dann auch stirbt. Die zweite Frau wird als schwarzhaarig beschrieben. Die erste war blond“, stellte er in knappen Worten fest.
„Die mit den gefärbten Haaren und ihre Mitbewohnerin“, nickte Ross, ohne von seinem Aufschrieb aufzuschauen. „Hier war’s nicht der Ort, sondern die Position der Leichen.“
„Und das mit der Ehefrau erklärt auch die Plastik-Eheringe“, ergänzte Zane müde. „Die waren ineinander gehakt als Symbol dafür, dass die beiden in Wirklichkeit ein und dieselbe Person waren. Kein Zweifel.“
„Jesus“, murmelte Sears kopfschüttelnd. Sie durchblätterte die Akten, die auf dem Tisch in der Nähe lagen, und machte sich Notizen. Henninger hatte nur die Akten von denen angefordert, die im Jahre 2004 in oder um Baltimore gelebt hatten, was den weiteren Umkreis mit einschloss, zum Beispiel auch Washington DC. Der Stapel war riesig
Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Zane, als er die Akten anblickte. Als ob man in einer verdammten Nadelfabrik nach einer ganz bestimmten Nadel suchen würde. Woher sollten sie wissen, welche Akte wirklich relevant war? Sogar Tys Akte lag irgendwo auf diesem Stapel. Es juckte Zane in den Fingern, danach zu suchen. Stattdessen blätterte er weiter in dem Buch und fand eine weitere passende Geschichte, eine, die er während seiner Schulzeit wieder und wieder gelesen hatte. „ Das verräterische Herz“ , sagte er.
Beide Agenten blickten von ihren Notizen auf. Diese Geschichte brauchte Zane nicht zu erklären.
„S IE WAREN ein großartiger Gesprächspartner, aber für mich wird es allmählich Zeit zum Gehen.“ Die verzerrte Stimme klang jetzt gedämpfter, und das Licht war sehr schwach geworden.
Es hatte eine Weile gedauert, aber schließlich war Ty darauf gekommen, was das für ein Geräusch war. Im Nachhinein ärgerte es ihn, dass er dazu so lang gebraucht hatte. Mit dreizehn hatte er einen ganzen Sommer lang seinem Vater dabei geholfen, ein kleines Nebengebäude auf ihrem Gelände zu bauen. Sie hatten nur Betonziegel und Balken dazu verwendet, aber trotzdem hatten sie auch Mörtel und eine Maurerkelle dazu gebraucht. Während dieses Sommers hatte er das Geräusch, das beim Auftragen des Mörtels entstand, lieben gelernt. Und nun versuchte er sich damit abzufinden, dass das das letzte sein würde, was er hörte.
Der Wichser mauerte ihn ein. Nun, da er wieder einigermaßen klar im Kopf war, erkannte er das Motiv aus Das Fass Amontillado . Das war die einzige Erzählung von Poe gewesen, die Ty je gelesen hatte, und sie hatte ihm sogar gefallen. Welche Ironie, dass er jetzt genau auf diese Art sterben würde.
Er drehte den Kopf in der Dunkelheit. Oberhalb der Mauer konnte er nur den Umriss des Mannes erkennen, der sie baute. Wenn er sprach, hallte seine Stimme von den höhlenartigen Wänden der Katakomben wider und wurde dadurch so sehr verzerrt, dass Ty nicht einmal einen Akzent heraushören konnte. Noch weniger hätte er sagen können, ob ihm die Stimme bekannt vorkam.
Wieder spürte Ty, wie ihn das kalte Grauen überkam. Das war sein schlimmster Albtraum, einer, den er noch nicht einmal je wirklich geträumt hatte: zu wissen, dass sein Geliebter in Gefahr war, und er konnte nicht das Geringste dagegen tun. Seine Handgelenke und Knöchel waren blutig gescheuert von seinem stummen Kampf gegen die Fesseln. Er zitterte vor Kälte und Feuchtigkeit. Aber er hatte noch nicht aufgegeben. Er konnte nicht, nicht in dem Wissen, dass der Killer sich als nächstes Zane vornehmen
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