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Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)

Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)

Titel: Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Unzicker
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durchrangen, hatten sie jahrelang an eine aus heutiger Sicht bizarre Interpretation geglaubt. Sie hielten die vielen Spaltprodukte, in die das Uran zerfallen war, irrtümlich für neuartige schwere Elemente, sogenannte Transurane. Für eine Theorie dazu erhielt Enrico Fermi im Dezember 1938 sogar den Physik-Nobelpreis. Nur einen Monat später wurde Hahn und Straßmann klar, dass die Transurane nur ein Phantom waren. Verdient hatte Fermi den Preis dennoch – er hatte erkannt, wie man Kernreaktionen mit den 1932 von James Chadwick entdeckten Neutronen herbeiführen konnte. Diese Kernteilchen können sich durch ihre elektrische Neutralität in die Nähe eines Atomkerns mogeln, ohne den ungeheuren Abstoßungskräften zu unterliegen, die normalerweise Kernbausteine am Verschmelzen hindern.
    Hahn und Straßmann ahnten nicht, was sie mit ihrem Experiment auslösten – Zufall spielte bei der Entdeckung der Spaltung schließlich eine größere Rolle als Einsicht. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll solcher Irrungen, und dies muss auch heute zu denken geben. Hahn, selbst nicht Physiker, hatte es in jungen Jahren durch sein Geschick auf dem jungen Gebiet der Radiochemie sofort zu wichtigen Entdeckungen gebracht. Nachdem er Urankerne mit Neutronen beschossen hatte, verriet ihm das langsamer werdende Ticken eines Geigerzählers ein Charakteristikum der entstehenden Substanzen: die Halbwertszeit, nach der die anfängliche Zählrate auf die Hälfte absinkt. Hahn war klar, dass Substanzen, die sich in ihrer Halbwertszeit unterschieden, auch eine unterschiedliche physikalische Natur haben mussten. Besonders gut kannte er sich bei den chemischen Methoden zur Trennung dieser Substanzen aus: Er beherrschte virtuos Fällungen, Kristallisationen und all jene Tricks, von denen Physiker normalerweise nur die Namen gehört haben.
PLAUSIBLES WIRD ZUR AUSREDE
    Aber Hahn und Straßmann wurden bald überrascht. In den Substraten bestimmten sie nicht weniger als neun (!) verschiedene Halbwertszeiten von 10 Sekunden bis zu 60 Tagen – welch eine Komplikation. Eigentlich war dies schon verrückt genug, denn für die chemischen Eigenschaften der Elemente sind einzig die positiven Ladungen im Kern verantwortlich – beim Uran sind dies 92. Mochten sich auch die neu angekommenen Neutronen im Kern in positive Protonen umwandeln, konnte man sich die Entstehung der Elemente 93 und 94, vielleicht 95 denken, aber kaum mehr. Wohin mit den anderen Substanzen? Nun, Uran zum Beispiel hat verschiedene sogenannte Isotope, je nachdem, wie viele Neutronen sich zu den 92 Protonen gesellen, meistens sind insgesamt 235 oder 238 Bausteine in so einem Kern. Hahn tröstete sich zuerst mit der Annahme, dass auch die exotischen Elemente 93, 94 usw. Isotope mit verschiedenen Halbwertszeiten haben konnten. Aber selbst das erklärte noch nicht alles. Er erfand noch weitere Kunstgriffe, bevor er einsah, dass er total falsch lag. Die weiteren unterschiedlichen Substanzen hätten Hahn schon verdächtig vorkommen müssen, aber er suchte Zuflucht in einer weiteren Komplikation. Auch nach dem Aussenden eines Teilchens schwingen manche radioaktiven Kerne noch so erregt, dass sie sich erst durch Emission elektromagnetischer Gammastrahlung beruhigen. Dieses Abstrahlen konnte eine unterschiedliche Halbwertszeit besitzen, was Hahn 1921 selbst entdeckt hatte, und so kam es ihm vielleicht gelegen, damit auch noch sein Schema zu retten.
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    Oh, was sind wir alle für Idioten gewesen. Genau so musste es sein. – Niels Bohr, Nobelpreisträger 1922, über die Kernspaltung
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    Dennoch fiel das ganze Denkgebäude der Transurane Ende 1938 wie ein Kartenhaus in sich zusammen, nachdem Irène Joliot-Curie, Nobelpreisträgerin für Chemie 1935, die frappierende Ähnlichkeit eines Transurans mit dem Element Lanthan aufgefallen war. Sie schrieb: „Die Eigenschaften des R 3,5 h sind die des Lanthans, und es scheint, dass man es nicht von diesem fraktionieren kann.“ „Es interessiert mich nicht, was die Dame wieder schreibt!“, reagierte Hahn unwirsch. 11 Erst als Straßmann ihm den Artikel buchstäblich unter die Nase hielt, testeten sie eine der merkwürdigen Substanzen darauf, ob es sich bei ihr nicht um Barium handeln könnte – Hahn wurde zu seiner Entdeckung also fast genötigt. Beinahe trotzig schreibt er in seinem Buch Vom Radiothor zur Uranspaltung , die falsche Theorie der Transurane habe sich „fast zwangsläufig“ unter den damals herrschenden Vorstellungen ergeben.

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