Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
weil sie nicht gelesen wird. Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Physiker beschäftigt sich mit Fachartikeln außerhalb des eigenen Gebietes – man würde sie ja meist auch nicht verstehen.
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Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. – Johann Wolfgang von Goethe
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Zusätzlich irritiert, dass die aktuelle mündliche Wissensüberlieferung gegenüber der schriftlichen ein so großes Gewicht hat. Die Nestwärme von dreihundert Gleichgesinnten in einem Konferenzraum zu spüren, statt sich dort auszugrenzen durch Skepsis gegenüber dem Etablierten – das lässt unser Urteil nicht kalt. So zählt das weit mehr, was auf Tagungen diskutiert und von den Alpha-Wölfen als ‚allgemein anerkannt‘ befunden wird, als das leicht bedruckbare Papier. Und dieses bildet die Gegenwart ja ohnehin schon unter einem enormen Vergrößerungsglas ab. Insbesondere Misserfolge werden oft nur mündlich kommuniziert, und so färbt das kollektive Gedächtnis die Wissenschaft genauso schön wie unser individuelles, das negative Erfahrungen ausblendet. Nimmt man die Entwicklung unter die historische Lupe, so wird auch klar: In der Physik wurde nicht immer nur die Realität langsam freigelegt. Die Abbilder der Realität, unsere heutigen Standardmodelle, tragen vielmehr deutliche Spuren menschlicher Formung.
Thomas Gold, ein Pionier der Kosmologie, stellte sarkastisch fest, dass durch Aussieben bei der Begutachtung, Organisation von Tagungen und Mittelverteilung unter der Kontrolle des Gruppendenkens sogar eine wenig fundierte Hypothese in wissenschaftliche Wahrheit transferiert werden kann. So sind womöglich die Gleichschaltungen der Communitys, die sich auf den Konferenzen zutragen, noch schädlicher als die Missstände im Publikationswesen. Der ungesunde Fokus auf das Tagesgeschäft ist hier besonders stark ausgeprägt, und die eigentlichen Probleme der Physik werden noch viel gründlicher überblendet von der allerletzten Statistik zur Teilchenentdeckung, die gerade durchs Dorf getrieben wird. Doktoranden präsentieren die neueste theoretische Mode wie auf dem Laufsteg – viele Tagungen heißen schon „Trends in …“, und man folgt kurzatmig den wenigen Ideen der Trendsetter. [14]
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Wahrheit in der Wissenschaft: die jüngste aufsehenerregende Entdeckung. – Oscar Wilde
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Wer dabei sein will, der tut gut daran, eine Portion Enthusiasmus abzusondern mit dem Bekenntnis, das Fachgebiet sei im Zeitalter der Präzision angelangt, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass dies schon vor über hundert Jahren eine Degenerationserscheinung war. „We know“, heißt es da, „it is well established“, und zeigt doch nur, dass der Referent die Verantwortung für das Nachdenken an das Establishment abgegeben hat. Selten, und eher unter den Älteren, offenbart jemand die eigenen Zweifel, wenn er nach gereifter Sicht feststellt: „We still don’t know …“ Skepsis ist ein sehr individuelles Gefühl, und Euphorie gedeiht nun mal besser im Kollektiv. Aber die seit Jahrzehnten ungelösten Probleme, die die großen Physiker der Vergangenheit umtrieben, haben die allermeisten längst aus den Augen verloren.
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Angesichts der Dummheit der Mehrheit der Menschheit ist eine weit verbreitete Ansicht wahrscheinlich eher töricht als vernünftig. – Bertrand Russell, britischer Philosoph
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KEINE ERKENNTNIS AUF BEFEHL
Bei den Entdeckungen von Faraday, Kepler oder Planck war relativ wenig Psychologie im Spiel. Wenn Hunderte von Wissenschaftlern ein Experiment aufbauen und interpretieren, ist es aber fahrlässig, so zu tun, als spiele Gruppendynamik keine Rolle – naiver Realismus in Reinkultur eben.
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Ihr habt mir das alles so klar, so augenfällig gezeigt – stünde nicht der Text des Aristoteles entgegen, der deutlich besagt, der Nervenursprung liege im Herzen, man sähe sich zu dem Zugeständnis gezwungen, dass Ihr Recht habt. – Mittelalterlicher Philosoph zu einem Anatomen 39
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Eine Versuchsperson, die die relative Länge zweier Stäbchen schätzen muss, verleugnet ihre eigene Wahrnehmung, um in einer Runde von fünf instruierten Schauspielern deren Meinung zu folgen. Dies ist das Ergebnis des Konformitätsexperiments des Psychologen Solomon Asch. 40
(4) Auch die Stäbe A und B wurden im Experiment von Asch als gleich lang wie X bezeichnet.
Überlegen Sie, wie schwer es fällt, unter mäßigem sozialen Druck – wie etwa im Beruf – Nein zu sagen. Und
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