Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
nur weil es einem nicht passt.“ Und Feynman selbst sagte in seiner Nobelpreisrede: 100 „Ich denke, dass die Renormierungstheorie einfach ein Weg ist, die Schwierigkeiten der Unendlichkeiten in der Elektrodynamik unter den Teppich zu kehren.“ Der Erfolg der Quantenelektrodynamik ist offenbar auf logische Widersprüche gebaut. Ein sandiges Fundament.
WIE VIELE FORMELN BRAUCHT DIE NATUR?
Ungeachtet dessen steht die Quantenelektrodynamik im Ruf, die Eigenschaften der Teilchen sogar beliebig genau zu berechnen. Aber leider stimmt auch das nicht. Normalerweise kann man Berechnungen Schritt für Schritt mit einer Methode präzisieren, die am besten mit einer Geschichte über Mathematiker in einer Bar zu veranschaulichen ist: Auch unendlich viele von ihnen trinken zusammen nicht mehr als einen Liter Bier, wenn der erste einen halben Liter, der zweite einen Viertelliter, der dritte einen Achtelliter, also jeder nur die halbe Menge des jeweils vorherigen zu sich nimmt. Mathematisch betrachtet nähert sich die Summe ½ + (½) 2 + (½) 3 + … dem nüchternen Wert 1 an. Ebenfalls endlich bleibt das Ergebnis, wenn man andere Brüche als ½ verwendet, etwa α , das die Stärke der Elektrizität angibt: Die Quantenelektrodynamik addiert hier eine ähnliche Reihe wie + + … wobei zu jedem Summanden einige Feynman-Graphen gehören, die die möglichen Umwandlungen von Elektronen, Positronen und Lichtquanten darstellen. Weileine relativ kleine Zahl ist, kommt man sogar schneller zu einem präzisen Wert als bei den Mathematikern in der Bar, aber in beiden Fällen ist die Näherung umso besser, je mehr Summenglieder addiert werden.
Jeder Mathematiker, aber auch jeder Ingenieur kennt diese weithin angewandte Technik. Nur: In diesem speziellen Fall funktioniert sie nicht! Denn Freeman Dyson, der eng mit Feynman zusammengearbeitet hatte, zeigte, 101 dass die Reihe der Quantenelektrodynamik zu einer vertrackten Klasse von Fällen gehört, in denen die Näherung an den wahren Wert bei mehr Summanden wieder schlechter wird – wie mühselig geschliffenes Holz, das schlechter passt als das grob gehobelte. Dieser handwerkliche Mangel wirft aber eine philosophische Frage auf: Was ist, wenn unsere Messgenauigkeit eines Tages besser sein sollte als die durch die Quantenelektrodynamik erreichbare Vorhersage? Können wir einer Theorie vertrauen, von der erwiesen ist, dass sie eine vollständige Berechnung prinzipiell gar nicht erlaubt? Der Quantenelektrodynamik liegt also in vielfacher Hinsicht eine Mathematik zu Grunde, die man als marode bezeichnen muss – obwohl die glatt polierte Oberfläche vor Präzision glänzt.
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Quantenelektrodynamik ist ein kompletter Abschied von der Logik. Sie ändert den ganzen Charakter der Theorie. – Paul Dirac
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Das Berechnen weiterer Summenglieder wie,wird also wegen Dysons Beweis der schlechter werdenden Näherungen irgendwann sinnlos. Zudem ist es aber ein recht anspruchsvolles Geschäft, bei dem die Wissenschaftler gelegentlich stolpern. Zur konkreten Auswertung muss man nämlich die zahlreichen Umwandlungsprozesse zwischen Elektronen und Licht zusammenrechnen, was aufwendige Computerprogramme erfordert. 102 Nachdem sich die Theoretiker sowohl 1995 als auch 2002 verzählt hatten 103 – was im ersten Fall zwölf Jahre lang unbemerkt geblieben war –, passierte 2006 wieder ein Malheur bei der Berechnung, sodass über zwei Jahre lang von der CODATA-Kommission, den Wächtern der Naturkonstanten, ein falscher Wert für α publiziert wurde; die Diskussion über die korrekte Berechnung reißt indes nicht ab. Sogar in Feynmans eigenem Buch – nur als Beispiel – ist ein Graph irreführend. 104 Alle diese Berechnungen würde man sich auch für eine breite wissenschaftliche Öffentlichkeit nachvollziehbar aufbereitet wünschen – inklusive des Computercodes. Die beiden grundlegenden Paper des Nobelpreisträgers Julian Schwinger in Physical Review 1948 und 1949 enthalten insgesamt 469 Formeln, 105 viele davon erstrecken sich über mehrere Zeilen. Ich gebe zu, ich habe sie nicht nachgerechnet. Aber ich bezweifle, dass dies die einzig adäquate Beschreibung des einfachsten Teilchens im Universum ist – umso mehr, als Schwinger im ersten Absatz vorausschickt, es handle sich nur um eine Näherung. Jedenfalls bin ich gegenüber der Geschichte der fantastischen Übereinstimmung von Experiment und Theorie, obwohl ich sie selbst schon erzählt habe, inzwischen etwas skeptisch
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