Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
Milliarden Jahren auf einen Gegenstand wirken, käme dieser etwa auf die Lichtgeschwindigkeit. Wegen dieses spannenden Zusammenhangs mit den Naturkonstanten wurde man auf MOND neugierig, obwohl die Theorie ihn nicht begründen konnte. Aber an einen Zufall der Übereinstimmung mag man auch kaum glauben.
Vielleicht eine allgemeine Betrachtung dazu anhand eines Beispiels: Natürlich beweisen solche Koinzidenzen nicht immer einen ursächlichen Zusammenhang. Prominent geworden ist etwa eine ähnlich große, unerklärte (negative) Beschleunigung der beiden Raumsonden Pioneer 10 und 11, was zu vielen Spekulationen über die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes geführt hat. Nun scheint das Rätsel durch eine aufwendige Analyse gelöst: [42] Die Wärmeabstrahlung der Sonden geschah leicht bevorzugt in Flugrichtung und führte so zu einer winzigen Abbremsung wie bei einem Auto, das Fernlicht in Fahrtrichtung aussendet.
Die Ernüchterung nach solchen Erfahrungen führt manchmal zu dem wenig durchdachten Totschlagargument, numerische Koinzidenzen seien immer Zufall. Das erstaunliche Auftreten der Beschleunigung a 0 bei MOND kann man kaum mit der Pioneer-Anomalie vergleichen. Dort handelte es sich um komplexe Technik mit einer Reihe von Fehlerquellen, von denen eine besonders subtile in einer verdächtigen Größenordnung lag. Bei den über tausend Spiralgalaxien hingegen, die durch MOND so sonderbar gut beschrieben werden, ist ein entsprechender systematischer Auswertungsfehler kaum denkbar. Jedenfalls würde er sich nicht auf die Größe von a 0 auswirken.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, muss ich hier klarstellen: Ich bin kein Fan von MOND! Zwar wurde die anfangs hemdsärmelige Formulierung der Theorie inzwischen unter dem Namen TeVeS (für Tensor-Vektor-Skalar) repariert. Es gibt aber eine Reihe von Beobachtungen, bei denen MOND schlecht aussieht, was von den Gegnern auch genüsslich hervorgehoben wird. Dazu zählen die von Fritz Zwicky schon bemerkte ‚fehlende Masse‘ in Galaxienhaufen, auf die die Röntgenstrahlung des dort befindlichen heißen Gases hindeutet, oder auch die angeblichen Hinweise auf Dunkle Materie im frühen Universum. Nur: Dafür war MOND nicht gedacht – es ist so, als ob man einem Mountainbike vorwerfen würde, es tauge nicht zum Windsurfen. Und natürlich verzerrt die unausgewogene Verteilung von Forschungsmitteln die Meinungsbildung, am Standardmodell arbeiten bestimmt hundertmal mehr Leute als an MOND.
Trotz allem denke ich, dass die Theorie bekannt genug ist, um sich durchsetzen zu können, wenn sie denn richtig ist. Das ist wohl nicht der Fall, und ironischerweise werden ihre Unzulänglichkeiten schon wieder zur Rechtfertigung des Standardmodells benutzt – so als ob dieses umso glaubwürdiger wäre, je mehr böse Taten man MOND nachweist. Teufelsaustreibung geschieht meist im Dienst einer Religion.
WARUM GRAVITATION ES DEN ALTERNATIVEN SCHWER MACHT
Gefährlicher als die stiefmütterliche Behandlung von MOND ist, dass neue Ideen kaum Chancen haben, Gehör zu finden. Denn wer sich ernsthaft gegen das kosmologische Standardmodell stellt, gilt schnell als Außenseiter. Warum dieses mit dem Postulat der Dunklen Materie und vielen weiteren Komplizierungen eine so dominierende Stellung einnimmt, hat soziologische Gründe, aber vor allem den, dass es aus Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie entstanden ist, die allgemein als Evangelium gilt. Dass das heutige Standardmodell das schlanke Werk Einsteins mit den verschiedensten Anbauten verunstaltet hat, hätte dem Architekten kaum Freude bereitet – aber Einsteins Ansichten zur Einfachheit der Natur werden in dem Zusammenhang nicht gern erinnert.
Zudem gibt es eine Reihe von Präzisionstests bei starken Gravitationsfeldern, [43] mit denen die Allgemeine Relativitätstheorie sich gegen Newton durchgesetzt hat. Zu behaupten, diese beeindruckend genauen Beobachtungen seien ein Beweis der Allgemeinen Relativitätstheorie, ist aber insofern nicht logisch, als die Dunkle-Materie-Effekte bei schwachen Gravitationsfeldern auftreten, bei denen die Theorien von Einstein und Newton identisch sind. Will man die Anomalien durch eine neue Gravitationstheorie erklären, muss man daher beide über den Haufen werfen, was bei vielen Wissenschaftlern einfach Ängste auslöst. Es hilft aber nichts: Unsere besten physikalischen Theorien widersprechen sich nun mal, und daher wird sich kaum ein substanzieller Fortschritt ergeben, wenn man sie als
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