Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
bescheidener Kombination von Eigenschaften man seine Füße fortbewege. Die oberflächliche Ordnung wurde ja erst möglich, nachdem man jahrelang gedankenlos Teilchen produziert hatte. Das unvermeidliche Aufstoßen nach einer schwelgerischen Orgie von Messungen wurde als Bußfasten verkauft.
VORHERSAGEN UND NACHHER SAGEN
Es entspricht der menschlichen Psyche, die Teilchenphysik retrospektiv als Erfolgsgeschichte zu beschreiben, denn die Widersprüche verblassen durch die Brille der Erinnerung. Aufgebauscht wurde zum Beispiel die Behauptung, Gell-Mann habe mit seinem Modell neue Teilchen vorhergesagt, etwa das Omega-Teilchen mit einer Ruheenergie von 1690 Megaelektronenvolt.
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Von dem Ruhm der berühmtesten Menschen gehört immer etwas der Blödsinnigkeit der Bewunderer zu. – Georg Christoph Lichtenberg
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Echte quantitative Vorhersagen von Massen gibt es in der gesamten Teilchenphysik nicht. Hier wurde lediglich ein bestimmter Bereich vermutet, der als Fortsetzung einer vorher gefundenen Kette von Energien nahe lag wie der nächste Zaunpfosten. Das Quarkmodell benötigte noch ziemlich viel Klebstoff, um haltbare Aussagen zu machen – sogenannte Gluonen, also ‚Leimteilchen‘, und virtuelle Quark-Antiquark-Paare, sogenannte sea quarks.
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… die absteigende Größenskala Atom, Kern … Quarks. Ich kann mich des hässlichen Verdachts nicht erwehren, dass die Sache damit nicht endet … – Emilio Segrè
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Erst mit diesen zusätzlichen Erklärungshilfen erhielt man eine halbwegs ordentliche Übereinstimmung mit der am Stanford Linear Accelerator Center SLAC gemessenen Protonengröße, die vorher nicht so recht stimmen wollte 175 – und übrigens heute immer noch nicht stimmt. 176 Die Ausuferung des Modells störte damals nur wenige, wie Andrew Pickering anmerkte:
„In diesem Stadium war das Quark-Parton-Modell in Gefahr, kunstvoller als die Daten zu werden, die es erklären wollte. Ein Kritiker konnte leicht feststellen, dass die Gluonen und Sea Quarks einfach Ad-hoc-Behelfe waren, ausgelegt, um die erwarteten Quarkeigenschaften mit den experimentellen Befunden abzustimmen … Nichtsdestoweniger argumentierten die Feldtheoretiker, diese Elemente müssten in jeder sinnvollen Feldtheorie enthalten sein, obwohl sie keinen konkreten Kandidaten für eine solche Theorie vorzeigen konnten.“
Weit war es da schon gekommen mit der Physik. Eine Rolle bei der Durchsetzung des Quark-Modells spielte auch die Vermutung, dass Neutrinos ihre Energie auch an Neutronen abgeben können, was man ‚schwache Neutralströme‘ nennt. Sie waren von den Theoretikern erwünscht, weil man damit die elektrische und die schwache Wechselwirkung mit der Gruppentheorie formal zu einer ‚elektroschwachen‘ Wechselwirkung vereinigen konnte. In der Tat war nach der Etablierung der schwachen Neutralströme der Weg zum Nobelpreis frei, den Weinberg, Salam und Glashow 1979 für ihre Theorie erhielten. Entsprechend war für den Nachweis der Neutralströme auch einiges in Bewegung gesetzt worden. Am CERN in Genf baute man die gigantische Blasenkammer Gargamelle , einen Detektor, der nachweisen sollte, dass auf Neutronen prallende Neutrinos einen Schauer von schweren Teilchen auslösen. Dabei war aber strittig, ob wirklich Neutrinos die Ursache waren oder ganz normale Neutronen – auf den Fotos ist in beiden Fällen ein scheinbar aus dem Nichts entstandener Teilchenschauer sichtbar.
Solche Aufnahmen des Nichts beleuchten übrigens ein Dilemma der Hochenergiephysik: Neutrale Teilchen machen sich wegen ihrer Unfähigkeit, elektrische Ladungen von anderen abzutrennen, immer nur indirekt bemerkbar. Ob das Signal dann von einem Photon, einem neutralen Pion oder Kaon, einem Neutron oder von irgendeinem Neutrino kam, muss nachträglich mit theoretischen Annahmen entschieden werden. Je mehr neutrale Teilchen eine Theorie in der Tasche hat – inzwischen eine ganze Menge –, desto beliebiger kann sie Experimente interpretieren. Im strittigen Fall der Neutralströme versuchte man die Anzahl der störenden Neutronen mit Modellen abzuschätzen. Natürlich hängt das Ergebnis dann davon ab, welche theoretischen Annahmen in die Auswertung einfließen: ein klarer Fall, in dem ein Experiment eben keine eindeutigen Antworten der Natur liefert.
BIOTOP FÜR ENTDECKUNGEN
Soziologisch höchst interessant sind die Geschehnisse am CERN, die Peter Galison in seinem Buch How Experiments End beschreibt. Endlich war man dort zu dem Schluss gekommen,
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