Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
kleine Kinder schön. Der Umgang mit Kindern war ein Vergnügen, weil sie so viel Potenzial hatten. Alles lag noch vor ihnen. Aber für Scharen fremder Leute zu arbeiten? Stundenlang an einer Kasse zu stehen? Oh je, das musste deprimierend sein. »Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«, fragte sie.
Jazzy blickte nachdenklich drein. »Ich würde nicht behaupten, dass sie mir gefällt, aber im Moment ist es das Richtige für mich. Sie wissen ja, wie das läuft.«
Marnie nickte, obwohl sie nicht ganz verstand.
»Mir ist klar, dass ich den Job nur eine begrenzte Zeit machen werde«, erklärte Jazzy. »Tatsächlich fühlt es sich so an, als würde ich schon bald etwas verändern. Ich vertraue darauf, dass ich zur rechten Zeit entdecken werde, was ich wirklich aus meinem Leben machen soll, und dass dann alles ins Lot kommt. Vorläufig ist der Job aber in Ordnung für mich.«
6
Sonntagabend spähte Laverne Benner durch ihre Jalousie auf die junge blonde Frau, die auf der anderen Seite der Straße geparkt hatte, und beobachtete, wie sie aus dem Wagen stieg und über den Gehweg zum Haus ging. Lavernes Kater Oscar strich ihr um die Beine, bis sie ihn wegschob. Dumme Katze.
Sie war gespannt, was die junge Frau tun würde, wenn sie zur Haustür kam. Schon vor Langem hatte Laverne ihren Sohn Dave gebeten, die Klingel zu ihrer Wohnung stillzulegen. Die Klingel der oberen Wohnung funktionierte dagegen noch und wenn sie summte, konnte sie es durch die Decke hören. Sie empfing niemanden. Meistens kamen ohnehin nur Vertreter oder Leute von der Kirche, niemand, mit dem sie hätte reden wollen.
Als das Mädchen näher kam, konnte Laverne es deutlicher erkennen. Es war ein hübsches Ding mit glänzend blondem Haar, das bei jeder Bewegung mitschwang, einer lebendigen Ausstrahlung und einem fröhlichen Lächeln im Gesicht, obwohl es keinen erkennbaren Grund zum Lächeln gab.
An der Haustür blieb die junge Frau nicht stehen, sondern kam auf direktem Wege herein. Laverne erstarrte einen Augenblick ängstlich, aber sie hörte an der Bewegung in der Eingangshalle,dass sie auf dem Weg zur Treppe war.
Ach so, in Ordnung, ein Gast der neuen Mieterin.
Was für eine Erleichterung. Sie hörte, wie im Obergeschoss an die Tür geklopft wurde, und dann die Stimme der Mieterin, die ihren Gast begrüßte. Das Mädchen sagte etwas und brach dann in fröhliches Gelächter aus. Laverne merkte plötzlich, dass sie lächelte. Es war ein wunderschönes, ansteckendes Lachen. Melodisch.
Sie ging zur Tür und öffnete sie in der Hoffnung, mehr davon zu hören. Oscar spähte zu ihren Füßen mit ihr zusammen hinaus. Dann, bevor Laverne ihm mit dem Fuß den Weg versperren konnte, drängte er sich durch die Öffnung und war draußen.
»Oscar«, zischte Laverne. »Komm sofort zurück.«
7
Marnie hatte alles vorbereitet. Das Geld, das sie Jazzy für die Autobatterie schuldete, steckte in einem Umschlag und sie würde es Jazzy gleich geben, wenn sie zur Tür hereinkam. Sie hatte den ganzen Tag gekocht, ein wahres Thanksgiving-Dinner aus Truthahn, Soße, Kartoffeln, Brötchen und Süßkartoffeln. Zu spät bemerkte sie, dass das alles schwere Speisen waren. Ein wenig grünes Gemüse wäre eine schöne Ergänzung gewesen, aber wie sich herausstellte, schien Jazzy den Mangel nicht zu bemerken.
»Das ist einfach köstlich«, sagte Jazzy mehr als einmal. Sie redete gerne und war unterhaltsam, erzählte Geschichten über die Leute, die sie von der Arbeit kannte. Ihre Art, begeistert die Faust in die Luft zu stoßen, war das Gegenstück zu einem Ausrufezeichen. Ihre Lebensfreude war unübersehbar; es war schwer zu glauben, dass sie meinte, an einer Trauergruppe teilnehmen zu müssen.
Wie schön es war, Gesellschaft beim Essen zu haben, fand Marnie. Früher, als sie noch mit Brian und Troy zusammengelebt hatte, war die Stimmung immer gedämpft gewesen. Brian war schrecklich still gewesen und nicht etwa, weil er zuhörte. Meistens hatte er sich innerlich ausgeklinkt. Das hatte nichts mit ihr zu tun, da war sie sich sicher, weil er mit seinem eigenenSohn genauso umging. Troy erzählte zum Beispiel etwas aus der Schule – etwas Komisches über einen seiner Lehrer oder etwas über einen Streit um Essen in der Cafeteria – und später behauptete Brian, nichts davon zu wissen. Das Leben mit Brian war einsam gewesen, das begriff sie jetzt. Er war ihr tot so viel Gesellschaft wie lebendig.
Als eine Gesprächspause entstand, fragte Marnie: »Wenn es nicht zu persönlich
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