Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
Kompliment bezog sich auf das Essen, nicht auf sie als Person. Und im Rückblick war ihr klar, dass es bei ihm beinahe ein Automatismus gewesen war. So wie man ›Gesundheit‹ sagte, wenn jemand nieste. Troy war der einzige, der ihr je wirklich Komplimente gemacht hatte; tatsächlich hatte er sie als kleiner Junge geradezu verehrt. Er fand sie hübsch und lachte über alle ihre Scherze. Er hatte sie Brian bei fast jeder Gelegenheit vorgezogen, vom Vorlesen über das Safteinschenken bis zum Einkuscheln abends im Bett. Wie schmeichelhaft für eine Stiefmutter. Oder Pseudo-Stiefmutter, wie ihre Schwester es formuliert hatte, da Brian sie ja nie geheiratet hatte. Sie war gut genug gewesen, um seinem Sohn beinahezehn Jahre lang eine Mutter zu sein, aber er hatte nie den richtigen Zeitpunkt gefunden, um ihre Beziehung amtlich zu machen. Marnie hatte geglaubt, irgendeinen schlimmen Makel zu haben, der die Heirat verhinderte, aber jetzt hatte eine vollkommen Fremde ihre positiven Eigenschaften erkannt. Sie umklammerte das Steuerrad und schluckte den Klumpen herunter, der ihr in die Kehle stieg. »Danke, dass Sie das sagen.«
»Es ist die Wahrheit.«
»Was schulde ich Ihnen jetzt eigentlich? Für die Batterie, meine ich.«
»Sie hat etwas weniger als sechzig Dollar gekostet. Ich kann noch mal auf der Quittung nachgucken, für den genauen Betrag.«
»Nein, sagen wir einfach sechzig.« Als Marnie nach ihrer Handtasche griff, wusste sie schon, dass sie nicht so viel Geld dabei hatte. Und sie erinnerte sich, dass sie ihr Scheckheft auf der Arbeitsplatte in der Küche hatte liegen lassen. »Tut mir leid, aber ich habe kein Bargeld dabei. Wenn Sie mir zu einem Geldautomaten nachfahren, kann ich es Ihnen gleich zurückzahlen.«
»Ich muss zur Arbeit«, antwortete Jazzy. »Aber keine Sorge. Das hat Zeit, bis wir uns das nächste Mal sehen.«
Welches nächste Mal? Oh ja, der Kurs! Marnie, die eigentlich nicht vorgehabt hatte, noch einmal in die Trauergruppe zu gehen, fand die Idee auf einmal gar nicht mehr so schlecht. Sie stellte sich vor, wie sie sich nächsten Dienstag für den Kurs fertigmachte und darauf achtete, sechzig Dollar für Jazzy einzustecken. Vielleicht würde sie unterwegs bei Starbucks Halt machen und sich so einen Kaffee holen, von dem Leticia erzählt hatte. Was war das nochmal gewesen? Ein kalorienarmerVanilla Latte? Ja genau, den würde sie nehmen. Bei dem Gedanken fühlte sie sich gut, sie hatte plötzlich das Gefühl, etwas vorzuhaben. Sie war jemand, der für die nächste Woche Pläne hatte. Vielleicht würde sie beim Aufbruch sogar Mrs. Benner etwas zurufen – ›Ich gehe jetzt zu meinem Kurs in der Volkshochschule, Mrs. Benner. Um neun bin ich wieder da.‹ Sie selbst mochte ja eine traurige Gestalt sein, aber Mrs. Benner war noch schlimmer dran. Die Arme, was auch immer sie zu einer Einsiedlerin gemacht hatte, es musste schrecklich gewesen sein. Wenn Marnie sie ein bisschen an ihrem Leben teilhaben ließ, würde sie sich vielleicht weniger allein fühlen.
»Prima«, sagte Jazzy. »Dann machen Sie’s mal gut und bis Sonntag also.«
»Sonntag?«
»Zum Abendessen. Schon vergessen? Sie haben mich eingeladen und wollten für mich kochen.«
Plötzlich machte es Klick in Marnies Kopf. Ja, jetzt wusste sie es wieder. Das Dankeschön-Essen. Aber hatte sie wirklich Sonntag gesagt? Jazzy schien sich so sicher zu sein. »Ach ja, natürlich«, erwiderte Marnie. »Ich war nur kurz ein bisschen verwirrt.«
»Dann gilt die Abmachung also noch?«
»Unbedingt.« Marnie lachte befangen. »Ich freue mich schon darauf. Kommen Sie gegen sechs. Ich lasse die Haustür offen. Kommen Sie einfach hoch. Es wird schön sein, Gesellschaft zu haben.«
Bevor Jazzy in ihren Wagen stieg, fiel Marnie noch eine Frage ein. Sie lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Jazzy!«
Jazzy wandte sich fragend um. »Ja?«
»Was arbeiten Sie eigentlich?«
»Ich bin Kassiererin.« Sie ließ den Autoschlüssel um den Finger kreisen. »Im Supercenter am Highway 63.«
Das klang schrecklich. Marnies Arbeit mit vierjährigen Kindergartenkindern – also, das war ein großartiger Job! Je kleiner die Kinder waren, desto lieber mochte sie sie. Kleine Kinder waren so energiegeladen und neugierig. Und selbst die, deren Mätzchen manchmal anstrengend wurden, hatten ihre guten Seiten. Es war eine Freude, sie anzusehen, mit ihren frischen Gesichtchen, der makellosen Haut und den perlweißen Zähnen. Nach Marnies Meinung waren alle Menschen als
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