Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
Kinder, meine ich?«
»Ich habe überhaupt keine«, antwortete Marnie traurig. »Aber ich habe ein Kind großgezogen und er war in jeder Hinsicht wie mein eigener Sohn. Ich habe ihm beigebracht, wie man sich die Schuhe bindet, und ich habe ihn gepflegt, wenn er krank war. Ich bin zu seinen Elternabenden gegangen.« Sie war wie eine Mutter für ihn gewesen, aber sie hatte nicht die Rechte bekommen, die eigentlich mit den Pflichten einhergehen. Jeden Tag hatte sie Troy nach der Schule bei den Hausaufgaben unterstützt, etwas, wozu Brian die Geduld fehlte. Sie hatte ihm hundertmal sein Pausenbrot für die Schule eingepackt, hatte Snacks für Troys Freunde besorgt, wenn sie zu Besuch kamen, und andere Eltern angerufen, um Fahrgemeinschaften für Schulveranstaltungen zu bilden. Bei diesen Gelegenheiten hatte sie sich immer als Troys Stiefmutter vorgestellt und Troy hatte es genauso gehalten, aber sie hatte zu spät begriffen, dass das alles nur ein potemkinsches Dorf gewesen war, ein schöner Traum, der durch Brians Tod und Kimberlys Auftauchen zerplatzt war.
Als sie losweinte, reichte eine der Frauen ihr ein gelbes Taschentuch. Marnie unterdrückte ein Schluchzen und zwang sich, unter Tränen zu sprechen. Sie erzählte von der Beerdigungund wie Kimberly eingetrudelt war. Sie hatte nach teurem Parfum gerochen und gemusterte Reisetaschen getragen, mit Designerlabel. Nach ihrer Ankunft hatte Kimberly Troy und Marnie sofort umarmt und sich berichten lassen, wie Brian zusammengebrochen und vor ihren Augen gestorben war. »Ach, ihr Armen«, sagte sie und klackerte mit ihren langen glitzernden Nägeln auf der Küchentheke herum.
Damals hatte Marnie Kimberly noch nicht gehasst: Tatsächlich hatte sie sogar eine Verwandtschaft mit ihr empfunden. Der Hass kam erst später, als sie begriff, dass diese Frau ihr Troy rauben würde. Kimberly ging zudem auch noch ganz nüchtern an die Sache heran und fragte Troy, was er auf dem Flug mitnehmen wolle. »Alles, was nicht in zwei Koffer passt, muss nachgeschickt werden«, sagte sie. »Oder ich hole es ab, wenn ich zum Verkauf des Hauses wiederkomme.« Troy sah geschockt aus und das Blut wich ihm aus dem Gesicht. Marnie fühlte sich, als hätte ihr jemand ein Messer in den Rücken gestoßen. Sie hätte es kommen sehen sollen, aber das hatte sie nicht. »Kann er nicht einfach mit mir hier bleiben?«, fragte sie Kimberly. »Er ist vierzehn. Nächstes Jahr fängt er mit der Highschool an. Seine Freunde ...«
Kimberly lachte, jene Art kehliges Lachen, das Männer sexy fanden. Marnie hätte sie am liebsten gewürgt, bis sie aufhörte. »In Las Vegas gibt es auch Highschools«, sagte sie. »Und Troy kennt schon ein paar Kinder in meiner Nachbarschaft, nicht wahr, Troy?«
Troy hatte stumm genickt, was Marnie verblüffte. Was war mit dem vorlauten, eigenwilligen, launischen Jungen passiert, den sie so sehr liebte? Wie alle männlichen Geschöpfe war er Wachs in Kimberlys Händen.
Marnie breitete ihre Geschichte vor der Gruppe von Frauen aus und blickte in acht mitfühlende Gesichter. Die Frau neben ihr umarmte sie. Marnie war noch nie so dankbar für freundlichen Zuspruch gewesen.
Rita hob leicht die Hand. »Wie kommt es, dass Troy Kinder in Kimberlys Nachbarschaft kannte?«
»Ach, das.« Marnie wischte sich die Augen trocken und putzte sich die Nase. »Troy hat seine Mutter im Sommer immer für drei Wochen besucht. Und dann manchmal auch an verlängerten Wochenenden während des Schuljahrs. Er ist nicht gerne hingegangen, aber so war die Abmachung eben.« Sie erwähnte nicht, dass Brian oft zur Halbzeit von Troys Sommerbesuchen ebenfalls dort hinflog, und dass beide, sowohl Troy als auch Brian, übel gelaunt zurückkehrten. Manchmal brauchten sie Wochen, bis sie wieder sie selbst waren. Marnie wurde nie zu Kimberly nach Hause eingeladen. Aber selbst wenn, sie hätte trotzdem nicht mitkommen können, weil Brian und Troy immer nach Las Vegas flogen. Marnie hatte in ihrer Highschoolzeit ein traumatisches Erlebnis im Flugzeug gehabt und das Fliegen seitdem vermieden.
»Halten Sie Kontakt mit Troy?«, fragte Jazzy. Sie beugte sich vor und hatte eine Hand auf jedes Knie gestützt. Sie hatte den Gesichtsausdruck von jemandem, der entschlossen ist, ein Problem zu lösen.
»Ich versuche es«, antwortete Marnie. »Aber wenn ich ihm eine SMS schicke, antwortet er nur mit ein oder zwei Worten. Und wenn ich ihn anrufe, ist es irgendwie immer zur falschen Zeit. Er wirkt dann so, als wäre er in Eile
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