Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
ist David Benner?«, fragte Jazzy, die den Namen von einem Etikett ablas.
»Mein Sohn. Er hatte vor einer Weile eine Bruchoperation und hat seine Tabletten nicht aufgebraucht.«
»Und Christoph Benner?«
»Mein jüngster Enkel. Man hat so ein ADHS-Medikament an ihm ausprobiert, aber er hat es nicht sonderlich gut vertragen. Es ist das richtige, wenn man einen kleinen Energieschub braucht.« Als sie Jazzys Miene sah, fügte sie hinzu: »Das ist nur für Notfälle. Ich bin sehr vorsichtig.«
Jazzy reichte ihr die Tüte zurück. »Und deine Familie gibt dir dieses Zeug einfach so?«
»Mehr oder weniger.« Sie stopfte den Beutel wieder in ihre Handtasche.
»Du weißt schon, dass man eigentlich nicht die Medikamente von anderen Leuten einnehmen soll?«, meinte Jazzy.
»Ja, das weiß ich. Ich benutze sie ja auch fast nie, aber ein Notfall ist nun einmal ein Notfall.«
Jazzy nickte zustimmend, während Marnie entsetzt zuhörte. Sie hatte noch nie im Leben Medikamente genommen, die jemand anderem verschrieben worden waren, und das würde sie auch niemals tun. Wusste Laverne denn nicht, dass Ärzte und Apotheker die Medikamentendosis auf das Gewicht und andere Gesundheitsparameter abstimmten? Mit einer so leichtsinnigen Haltung konnte man sich schnell mal selbst um die Ecke bringen. Manche Leute waren wirklich unglaublich.
Während der nächsten hundert Meilen beobachtete Marnie, wie Laverne die Augen zufielen und ihr dann der Kopf nach unten sank. Lavernes Locken waren gegen das Wagenfenster gepresst und die Drahtgestellbrille saß schief. Es war ein sonderbarer Gedanke, dass diese Frau schon seit Monaten unter Marnie wohnte, ohne dass sie sie je zu Gesicht bekommen hatte. Marnie hätte gerne gewusst, was Lavernes Problem war – warum hatte sie so zurückgezogen gelebt? Und warum war sie jetzt plötzlich wieder unter Menschen gegangen? Sie fragtejedoch nicht. Marnie hatte gelernt, dass die Leute einem zur gegebenen Zeit schon von alleine erzählten, was sie einen wissen lassen wollten. Laverne würde irgendwann damit herausrücken, oder eben auch nicht. Die Entscheidung lag ganz bei der alten Dame. Wenn Marnie von Brian irgendetwas gelernt hatte, dann, dass es besser war, niemanden zu bedrängen. Mit Zurückhaltung kam man weiter.
Iowa war üppig grün mit sanft gewellten Hügeln, die allmählich flacher wurden, je tiefer sie in den Bundesstaat hineinkamen. Inzwischen stand die Sonne vor ihnen, doch auf dem Rücksitz saß Marnie im Schatten. Rita hatte seit längerem die Klimaanlage eingeschaltet und sie schien den ganzen Wagen gut zu kühlen. Jedenfalls war es auf dem Rücksitz angenehm. Jazzy fummelte an ihrem iPod herum und machte gelegentlich eine Bemerkung, doch davon abgesehen war alles still.
Sie hatten einmal gehalten, um in einem McDonald’s etwas zu essen, und ansonsten regelmäßige Toilettenpausen eingelegt. Nachmittags hatte Rita darauf bestanden, zum Tanken zu halten, obwohl der Tank noch gar nicht leergefahren war. Sie hatte eine Tankstelle namens »Kum~&~Go« angesteuert, ein Name, den Jazzy auf »ganz viele Arten« falsch fand. Obwohl Jazzy den Namen nicht mochte, stieg sie mit den anderen aus, um zur Toilette zu gehen und im Tankstellenshop Knabbereien und eine Zeitschrift zu kaufen. Jetzt, da sie einige Zeit gemeinsam verbracht hatten, konnte Marnie sich allmählich von jedem im Wagen ein Bild machen. Jazzy war ein fröhlicher Freigeist, Rita war superkorrekt (sie überschritt die Höchstgeschwindigkeit kaum jemals um mehr als fünf Meilen, wasMarnie auf die Palme brachte) und Laverne war mal die staunende Touristin und mal die naive Alte. Ihre charakteristischste Eigenschaft war ihre Neigung, alles herauszuposaunen, was ihr durch den Kopf ging. Diese Frau filterte nichts aus. Gar nichts.
Es würde eine lange Fahrt werden.
19
Sie fuhren noch durch Iowa und es war noch nicht einmal dunkel, daher war Jazzy überrascht, als Rita sagte: »Was meint ihr, Ladies? Sollten wir hier übernachten oder nicht?«
Laverne, die gedöst hatte, hob den Kopf und rieb sich die Augen. »Wo sind wir denn?«
»Wir nähern uns Des Moines.«
»Wir machen in Des Moines Halt?«, fragte Marnie. Jazzy hörte, dass sie enttäuscht klang und gerne weitergefahren wäre, aber Rita saß am Steuer, und so konnte Marnie nicht gut widersprechen. Rita sagte, sie sei müde und für den ersten Reisetag wären sie weit gekommen. »Morgen fahren wir fast ausschließlich auf der Interstate und können wirklich ordentlich
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