Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
irgendjemand zum letzten Mal in meine Richtung geschaut hat. Wenn man erstmal die fünfzig hinter sich hat, ist man praktisch unsichtbar, vor allem für Männer.«
»Das kenne ich auch«, erwiderte Rita. »Hin und wieder hält mir mal ein älterer Herr die Tür auf und dann denke ich bei mir, na, du bringst es also noch. Ist das nicht traurig? Ich bin schon glücklich, wenn ein alter Kerl ein bisschen höflich zu mir ist.«
»Manche ältere Herren sehen sehr distinguiert aus«, meinte Marnie.
Rita lachte. »Ich rede nicht von distinguierten Herren. Sondern von alten Knackern. Einer von ihnen hatte sein Sauerstoffgerät dabei.«
Sie unterhielten sich weiter über Männer und die bewundernden Blicke, die ältere Frauen nicht mehr bekamen, und unterdessen blickte Jazzy immer wieder unauffällig zu der älteren Dame mit ihren Begleitern. Sie beobachtete, wie sie beobachtet wurde. Als sie spürte, warum man sie aus der Menge herausgepickt hatte, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Die drei merkten,dass sie anders war. Sie wussten es auf dieselbe Weise, wie ein Hund Angst wittert. Jazzy fühlte sich verwundbar. Sie griff nach ihrer Gabel, spießte einen Pilz auf und hoffte, dass sie sich irrte und in Wirklichkeit gar nicht genau gemustert wurde. Bloß dass sie sich in solchen Dingen selten irrte.
Als die Kellnerin die Teller der vier Frauen abräumte, hatten die Leute am anderen Tisch schon eine halbe Stunde in ihre Richtung gestarrt. Jazzy spürte, wie sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf sie richteten. Die auf der Hand liegende Lösung – die Gruppe ansprechen und fragen, ob sie ein Anstarr-Problem hatte – war nicht in Jazzys Sinn. Sie wäre gerne weit weg von hier gewesen und hätte sich am liebsten verdrückt. Das würde sie auch so bald wie möglich tun. Aber natürlich musste Laverne noch Nachtisch bestellen.
»Der Nachtisch ist eines der größten Vergnügen des Lebens«, sagte sie. Jazzy verließ der Mut, als Laverne alle Desserts ausführlich mit der Kellnerin durchsprach. Käsekuchen lag zu schwer im Magen und Sorbet war kein richtiger Nachtisch. Ein Pie wäre vielleicht das Beste, aber war der hiesige Key Lime Pie auch
richtiger
Key Lime Pie? Laverne kannte den Unterschied. Wenn es kein richtiger Key Lime Pie war, war er die Mühe nicht wert.
Jetzt mach schon
, dachte Jazzy ungeduldig. Zu allem Übel überredete Laverne Rita auch noch, sich ebenfalls etwas zu bestellen.
Als der Erdbeer-Käsekuchen kam, stießen Laverne und Rita begeisterte Rufe aus, als hätten sie seit Jahren keine ordentliche Mahlzeit mehr gesehen. Während Marnie laut darüber nachdachte, ob sie nicht selbst auch noch einen Nachtisch bestellen sollte, schlug Jazzys Unruhe in eine körperliche Reaktion um.Ihr wurde schwindlig und sie fühlte sich unwohl, als wäre sie in etwas eingewickelt, was sie nicht abschütteln konnte. Am Tisch wurde es ihr zu eng und die Hintergrundgeräusche waren ein Angriff auf ihre Ohren. Sie nahm etwas Geld aus ihrer Brieftasche, genug, um mehr als ihren Anteil zu begleichen, und legte es auf den Tisch. »Ich warte draußen auf euch«, sagte sie und warf sich den Handtaschenriemen über die Schulter. »Ich brauche frische Luft.«
Vor dem Restaurant füllte Jazzy ihre Lunge mit der milden Abendluft. Die Gruppe von Rauchern war verschwunden und sie war allein. Mit jeder Minute, die sie dort stand, legten sich die Panik und das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Die drei Leute am Tisch würden ihr nicht nach draußen folgen. Vorläufig war alles in Ordnung.
Aber was jetzt? Sie könnte spazieren gehen – die anderen Frauen hatten ihre Handynummer und konnten sich mit ihr treffen, wenn sie fertig waren. Aber sie befand sich in einer unbekannten Stadt und es wurde dunkel. Vielleicht war das keine gute Idee.
Geduld
, sagte eine Stimme.
Alles wird sich finden.
Sie schloss die Augen, senkte den Kopf, schüttelte ihre Anspannung ab und entspannte sich im Hier und Jetzt.
Die Tür des Restaurants ging auf und sie hörte einen Moment lang Stimmengewirr und rhythmische Musik. »Jazzy?« Sie blickte auf und da stand Marnie mit besorgter Miene. »Alles in Ordnung mit dir?«
Jazzy schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Ja, mir geht es gut.« Sie lächelte so überzeugend wie möglich.
»Du hast so ausgesehen, als würde dir gleich schlecht.« Marnie hatte einen so sorgenvollen Ausdruck im Gesicht, dass Jazzy sie am liebsten umarmt hätte. Ihr wurde plötzlich bewusst,dass sie sich in Gesellschaft von Frauen
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