Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
Wohnort hatte er gewechselt.
Als Judy Wihr zurückkam, ging sie direkt zu Rita und nahm ihr das Foto aus den Händen. Es war schwer, ihr Gesicht zu deuten. Rita hätte gerne etwas Bedeutsames gesagt, etwas Kluges, um Judy zu überzeugen, dass Davis nicht so charmant war, wie er wirkte, und dass Sophie sich in Gefahr befand. Sie hatte es satt, wie eine hysterische Mutter zu klingen. Hier stand ihr Wort gegen das von Davis. Alles, was ihr in den Sinn kam, wirkte unangemessen, und so sagte sie nur: »Sie haben eine reizende Tochter.«
»Meine Tochter bedeutet mir alles«, erwiderte Judy Wihr und stellte das Foto behutsam auf ihren Schreibtisch zurück. »Alles auf der Welt.« Sie wandte sich zu Officer Mahoney um, der auf ihrem Stuhl saß, und machte eine Handbewegung, als wolle sie ihn verscheuchen. »Bruce, wir brauchen etwas Privatsphäre. Könntest du bitte rausgehen?«
Verblüfft sagte er: »Ja, sicher, ich denke schon. Ich meine, wenn du das für das Beste hältst.«
»Ja, ich glaube, das wäre das Beste.«
Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, um seine Schlüssel zu holen, zögerte noch einen Moment und ging dann hinaus. Er legte die Hand auf die Türklinke und blickte sich ein weiteres Mal fragend um.
»Geh«, sagte sie, deutete auf die Tür und hielt die Augen auf ihn gerichtet, bis beide Glastüren hinter ihm zugefallen waren.»Und jetzt«, sagte sie, Rita ihre volle Aufmerksamkeit schenkend, »möchte ich alles von Ihnen hören.«
37
Schlafapnoe? Laverne hatte nie an so etwas gedacht, aber Marnie schien sich ziemlich sicher zu sein, dass sie darunter litt. Jedenfalls ergab es Sinn. Irgendwie musste sich doch erklären lassen, warum sie sich all die Jahre so fix und fertig gefühlt hatte. Sie war morgens kaum eine Stunde auf, da hatte sie schon wieder das Gefühl, ein Nickerchen machen zu müssen. Ihre Kinder hielten sie für depressiv, ihre Enkel nahmen an, es sei das Alter, ihre Freundinnen glaubten, sie sei ungesellig geworden, aber in Wirklichkeit war sie einfach nur müde. Vollkommen erschöpft. An manchen Tagen war es schon viel, wenn sie einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Nichts machte Spaß.
Marnie erklärte, wie Brian in der Schlafklinik ihrer Stadt die Diagnose bekommen hatte. Er war von seinem Arzt überwiesen worden und hatte die Nacht mit Elektroden am Kopf und auf der Brust verbracht. »Man wird die ganze Nacht von einer Kamera gefilmt und die Sauerstoffsättigung des Bluts wird aufgezeichnet«, berichtete sie. »Es ist keine besonders unangenehme Untersuchung. Wenn du dich entscheidest, sie machen zu lassen, kann ich dich fahren. Ich meine, wenn du das möchtest«, sagte Marnie und Laverne fand das ein ausgesprochen nettes Angebot.
Falls Laverne Schlafapnoe hatte, würde das Heilmittel in einer Schlafmaske mit einem Schlauch bestehen, der an einem Gerät befestigt war. Sie würde die Maske vors Gesicht schnallen und jede Nacht tragen müssen. »Es ist nicht so schlimm, wie es klingt«, meinte Marnie. »Brian hat sich sofort daran gewöhnt und sich so gut gefühlt wie seit Jahren nicht mehr.«
»Hatte er danach mehr Energie?«, fragte Laverne. »War er glücklicher?«
»Ganz entschieden mehr Energie«, antwortete Marnie und klopfte mit dem Finger aufs Steuerrad. »Aber ich würde nicht sagen, dass er glücklicher war. Brian war kein glücklicher Mensch. Zumindest nicht, wenn ich da war. Er war mürrisch und reizbar.« Mürrisch und reizbar, so hatte sie es ausgedrückt. Was für eine Kombination. Und dann hatte Marnie auf der Interstate I-70, auf der sie westwärts fuhren, einen kleinen seelischen Zusammenbruch, obwohl Laverne gar nicht mehr weiter nachgehakt hatte. Sie fing so heftig an zu weinen, dass Laverne schon einen Unfall befürchtete. Sie angelte die Packung Taschentücher aus dem Handschuhfach und reichte sie Marnie. Ohne ein Wort zu sagen, nahm Marnie sie entgegen, wischte sich die Augen trocken und schnäuzte sich. »Brian hat mich nie geliebt.« Sie würgte die Worte schwallweise in einem maschinengewehrähnlichen Stakkato heraus. »Egal, was ich getan habe. Ich habe alles versucht. Ich habe mich für seine Arbeit interessiert, den Haushalt versorgt, seine Reisen organisiert. Das habe ich jahrelang gemacht, aber das alles hat ihm nichts bedeutet.«
»Manche Männer sind einfach so«, meinte Laverne. »Sie sind eben Ärsche.«
»Nein, das verstehst du falsch. Er war kein Arsch. Alle anderen haben ihn für einen tollen Menschen gehalten. Er hatteGolffreunde,
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