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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Zirkusdirektor, an uns.
    Aber er war selten präsent. Schon kurz nach seiner Rückkehr, ein Arzt mit Ruf, wenn auch betriebsblind in seiner Ehe. Ich räumte dem Freund eine Schonfrist ein, nach deren Ablauf ich Laura nähme.
    Ich prolongierte, zu feige, mich der Wirklichkeit zu stellen, auch zu unschlüssig, wiederum zu flüchten.
    Die Welt war voller Morde. Mord war mein Sachgebiet. Ich war ein routinierter Experte des Tötens, ein Moralist der Hoffnungslosigkeit. Ich sah und schrieb, wurde gelesen und diskutiert. Ich änderte nichts am Lauf der Dinge – ohnedies war es ein Gewehrlauf.
    Der Mensch verherrlicht die Utopisten und folgt den Tyrannen. Gandhi rühmend, formiert er sich zu den Marschkolonnen Hitlers oder Stalins. Während die Menschlichkeit ihre Augen näßt, versickert das Blut der Opfer auf der Erde. Einen Choral lang ist der Mensch edel, am Weltspartag mehrt er seine Einlage, am Welttierschutztag füttert er Nachbars Hund, am Heldengedenktag feiert er die Gefallenen, als wären sie freiwillig und für eine gute Sache gestorben, statt an der unsterblichen Dummheit zu krepieren. Lehnte sich einer dagegen auf, wurde er Rebell, erlahmte sein Widerstand, arrangierte er sich als Konformist und etablierte sich in einer Gesellschaft, die sich am Konsum überfrißt wie ein Mastschwein am Trog, vor Wonne grunzend bis zu den Pforten des Schlachthofes, um dann mit seinem Fett und Cholesterin die Ganglien menschlicher Schlachtschweine zu mästen; ihnen offerierte die Weltgeschichte dann subtilere Hinrichtungsarten.
    »Schreib das doch«, sagte Laura.
    »Was nutzt es schon?«
    »Vielleicht bei einigen«, entgegnete sie. »Und diese wären wesentlich und könnten wiederum einige Wesentliche beeinflussen.«
    »Wie alt müßte ich werden, um diese Resonanz noch zu erleben?«
    »Gibt es heute noch Hexenprozesse?« fragte Laura.
    »Nicht im ursprünglichen Sinne …«
    »… und wie lange hat es gedauert, bis dieser ursprüngliche Sinn als Unsinn erkannt wurde?«
    »Du hast recht«, erwiderte ich und begann zu schreiben.

Wolfgang hatte das Gelände seiner Klinik durch Zukauf erweitert. Er wohnte mit Laura in einer Villa neben dem Hauptgebäude. Ich erwarb in der Nähe einen alten Bauernhof mit Butzenscheiben, tobte mich beim Umbau aus, verwandelte das Parterre in einen riesigen Wohnraum mit offenem Kamin. Über eine Freitreppe gelangte man zu den Schlafräumen in der ersten Etage.
    Es machte mir Spaß, Lauras Anregungen zu folgen, die das Haus so anheimelnd machten, als könnten wir es zusammen bewohnen.
    Ich schrieb, Laura kam ab und zu, mittags gingen wir zum Essen in die Klinik, an dem Wolfgang manchmal teilnahm.
    Ein paar Wochen später wurde ich an das Telefon gerufen. Es war Erik. Er sprach schnell, im Stakkato. Seine Stimme hatte einen metallischen Klang, wie ich ihn bei ihm noch nie gehört hatte.
    Aus der Leitung kam die Kälte.
    »Was ist los?« fragte ich.
    »Komm sofort hierher«, sagte Erik. »Daniel«, setzte er hinzu, »schlimm. Wenn du sofort in den Wagen steigst, erreichst du auf dem Flughafen Riem noch das Kursflugzeug.«
    Ich erreichte es, aber ich kam zu spät:
    Daniel gab es nicht mehr.
    Er hatte Verwandte aus Amerika abgeholt und war mit ihnen zum jüdischen Friedhof gefahren, auf dem sein Vater begraben lag. Der Gottesacker wirkte ein wenig verwildert, es gab mehr Tote als Lebende, die sich um ihre Angehörigen hätten kümmern können.
    Daniel Gersbach war der erste, der die Schändung der Grabsteine entdeckte. Sie waren umgestürzt, mit Hakenkreuzen beschmiert. Das war zu viel gewesen für diesen jüdischen Romantiker, der das Herz nicht von seinem Heimatland hatte lassen können – trotz alledem.
    Ich erfuhr die Zusammenhänge erst nach und nach. Daniel hatte seine Gäste verwirrt und ratlos auf dem besudelten Friedhof zurückgelassen. Er war mit den Schritten eines elektronisch gesteuerten Roboters gegangen. Seine Pupillen hatten wie Glasaugen ausgesehen, als er sich an das Steuer seines Wagens setzte, um nach Frankfurt zurückzurasen.
    Daniel war nicht angekommen.
    Sein Wagen zerschellte unterwegs an einem Brückenpfeiler. Man zog ihn schwerverletzt aus den Trümmern des brennenden Autos.
    Sein zerstörtes Gesicht ließ nicht mehr erkennen, warum er vor vielen Jahren in Berlin der jüdische Adonis genannt worden war.
    Man beerdigte Daniel in dem Land, in dem womöglich auch sein Grabstein umgestürzt werden würde.
    Während die Totenglocke einen Moment lang eine tote Stätte, die ein

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