Auf dem Rücken des Tigers
er nach einem Halt suchte, den er nicht mehr finden konnte, schossen ihm Formeln, Floskeln, Warnungen, Diagnosen durch den Kopf: Hypertrophiertes Herz, erhöhter Blutdruck, Fettleber, Kreislaufkollaps, totalgeschädigte Konstitution, infarktgefährdet.
»Was hast du?« fragte Jutta erschrocken.
Bevor sie Christian auffangen konnte, fiel er um. Er lag da, hager, geschlagen. Ein eingefallenes Gesicht ohne eine Spur von Leben.
»Ist kein Arzt hier?« fragte Jutta. »Bitte, rufen Sie doch einen Arzt!«
»Was soll denn hier noch ein Arzt?« kam zynisch eine Stimme aus dem Hintergrund.
Damals vor Moskau, im Dezember 1941, war ich ein Greis von neunzehn Jahren mit einer Lebenserwartung von Stunden. Oder ein bißchen länger. Es ging nicht so genau. Der Tod gab Mengenrabatt.
Bei 43 Grad minus war die Beihilfe zum Sterben auf eine Winzigkeit zusammengeschrumpft: Wegtreten. Hinlegen. Einschlafen.
Erst am späten Vormittag brachte der Tag die Augen auf, um nachmittags zwischen drei und vier Uhr wieder zu verdämmern. In dieser Zeit hackten wir mit dem Beil unser Kommißbrot ab oder sahen nach, wie weit die Körperwärme den Tubenkäse in unserem Hosensack aufgetaut hatte. Statt unserer Panzerfahrzeuge rollten Panje-Fuhrwerke. Die Pferde fraßen das Stroh von den Dächern, die Menschen die Pferde vom Wagen.
Und dazwischen kamen immer wieder die Russen.
Sie trugen weiße Uniformen. Sie kamen mit weißen Panzern, deren Geschütztürme weiß glänzten. Sie waren zum Fürchten. Aber der Frost machte den Tod weißer als tausend Russen.
Wir sprachen nicht mehr miteinander. Wir hatten Angst, daß uns die Zunge im Mund einfrieren könnte. Der Frost kostete Müller II die Füße und dem hageren Zöltsch Nase und Kinn. Der kleine Auer erfror sich beim Pinkeln das Glied und der Kompaniechef beim Austreten den Hintern; beidseitig. Es war nur eine Variante zu dem Thema, sich im ersten Winter des »Ostfeldzuges« einen kalten Arsch zu holen.
Unsere Einheit war bis zur Vorstadt von Moskau gelangt und hatte dann so nach und nach alles verloren: die Panjes, die Decken, die Munition, die Gasmasken, die Stahlhelme und die letzte Hoffnung, man könnte diese Schweinerei überleben.
Wenn schon, so redete ich mir sinnlos ein, dann lieber gleich. Und dann gab's wiederum unerwartet einen Schlag warmer Suppe, oder die russischen Infanteristen griffen an, und das erweckte die Lebensgeister, das eine wie das andere.
Die schäbigen Reste unserer Division waren an den Flanken überrollt, eingekesselt. Der Weg nach hinten sollte noch frei sein, aber es waren Partisaneneinheiten bis zu Bataillonsstärke gemeldet. Es sah aus, als würde nicht einmal der Troß aus der Umklammerung kommen.
Rußlands schneidender Wind bohrte sich in die Augen. Die Kälte schnitt in die Haut. Die Füße waren taub, das Hirn leer. Ich spürte die Versuchung, mich abseits vom zerlumpten Haufen hinzulegen und mich von der Kälte in die Arme nehmen zu lassen.
Dann kam wieder so ein dummer Versuch, dem sicheren Tod von der Schippe zu springen. Ich war knapp 20 Jahre alt. Bei meiner Generation war weder Selbstmitleid noch Scharfsinn gefragt. Die Tugenden der Zeit hießen: Hart wie Kruppstahl. Zäh wie Leder. Flink wie Windhunde.
Vor allem letzteres seit einiger Zeit.
Wir waren fertig, verlaust; so verkommen, daß wir apathisch zusahen, wie eine Spezialeinheit im namenlosen, zerschossenen Dorf die Menschen aus den Kellern trieb und formlos umlegte. Vielleicht hatten sie Partisanen geholfen, vielleicht waren sie Juden. Mit Sicherheit waren sie Russen. Und mit noch größerer Sicherheit konnten die Mütter nichts dafür. Mit letzter Sicherheit aber die Kinder, die einige der Russinnen auf den Armen trugen.
Eine junge Frau erhielt einen Genickschuß.
Sie fiel auf die Knie. Wiewohl sie tot sein mußte, schützten ihre Arme noch das Kind. Einer der Schergen entriß es der Toten. Einen Moment trug er es auf der Schulter und sah aus wie ein pervertierter Christophorus. Dann nahm er das Kleine und knallte es, um Munition zu sparen, mit dem Kopf gegen die Wand.
Ein paar von uns sahen weg.
Kleber fluchte laut. Mir wurde schlecht, aber ich konnte nicht kotzen, weil ich nichts im Magen hatte. Wie gesagt, wir waren reif. Wir redeten auch mehr vom Fressen als vom Ficken; die meisten onanierten schon nicht mehr.
Wieder trieben die Schergen ein paar Frauen zusammen.
Dann kam ein Kübelwagen. Der Offizier, der ihm entstieg, war schon von weitem als hohes Tier zu erkennen. Es war
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