Auf dem Rücken des Tigers
auf einer Bank im Hain, las ein Buch und legte es, als ich vorbeikam, mit dem Gesicht auf ihren Schoß. Ich konnte den Titel lesen und sah ein wenig überrascht, daß es ein Klassiker war. Ich überlegte, ob das Mädchen Liebeskummer haben mochte, aber dann erinnerte ich mich, daß es zum Usus der Stadt gehörte, entweder nichts oder Klassisches zu lesen.
Ich blieb stehen und lächelte.
Aglaia maß mich mit strafendem Interesse.
»Ist hier noch frei?« fragte ich.
»Öffentlich«, antwortete sie.
»Sie?« fragte ich. »Oder die Bank?«
Ich wies auf das Buch: »Kabale und Liebe«, sagte ich und grinste, »ach, wären wir doch schon bei der Kabale.«
»Sie sind ein Flegel«, entgegnete sie. »Sie sind genauso wie man Sie beschrieben hat.«
»Stehe ich schon im Fahndungsblatt?« fragte ich.
»Hier wird immer nach einem gefahndet«, erwiderte Aglaia, »ob er Junggeselle ist; ob er Geld hat; ob er am Sonntag in die Kirche geht und ob sein Großvater nicht nachsitzen mußte.« Sie sprach in der Art eines Laien-Komödianten, der einen auswendig gelernten Text hersagt. Vermutlich waren es keine spontanen Antworten, sondern Worte, die ihr der Verstand aufzwang, da sie sich anders geben wollte, als sie war; ein Eindruck, der sich verstärkte, weil Aglaia versuchte, ihren fränkischen Dialekt zu unterdrücken.
Vielleicht hätte ich von Anfang an mehr auf ihren Ehrgeiz achten sollen als auf ihre Beine.
»Sie gefallen mir«, sagte ich.
»Danke«, erwiderte sie, und ich sah seit langem wieder ein Mädchen, das errötete.
»So Sie auf dem Mist dieser Stadt gewachsen sind, beginnt der Mist dieser Stadt mich zu entzücken.« Ich rückte auf der Bank ein wenig näher an sie heran. Da ich es nicht unauffällig machen wollte, betonte ich es noch, während Aglaia unauffällig weiterrutschte.
Sie sah aus wie neunzehn. Später erfuhr ich, daß sie zwei Jahre älter war. Sie hatte dunkle Haare, große Augen, eine aufreizende Figur und auch einen klaren Verstand; er gäbe einem an sich intellektuell unbedarften Spiel erst die rechte Würze. Sie war fraglos ein Spitzenprodukt des deutschen Rom, noch besser eingebraut als das stadteigene Rauchbier.
Ich stand auf, nickte ihr zu: »Gestatten Sie«, sagte ich »Christian Schindewolff-Bamberg.«
»Klingt gut in dieser Stadt«, erwiderte sie.
»Und wer sind Sie?« fragte ich.
Aglaia vollbrachte eine Art Hofknicks: »Des Musiklehrers Töchterlein.«
Ich wußte, daß an diesem Ort die Bürger ihre Wünsche und Träume hinter der kühlen Hitze des Wohlanstandes verbargen, ein Fluidum, das mich zur Provokation reizte.
»Jungfrau?« fragte ich.
»Jetzt reicht's mir aber«, versetzte sie zornig.
Sie nahm ihren Schiller, klappte ihn zusammen, legte ihn in die Tasche und lief grußlos davon.
Ich folgte ihr.
Ich hätte es nicht tun sollen.
Ich war, wie gesagt, seit Kriegsende zum erstenmal in Deutschland, wo die Kriegsfurie vom Aufbausturm abgelöst worden war. Im Jahr meiner Rückkehr wurde der Mount Everest zum erstenmal bestiegen und der Ärmelkanal erstmals durchschwommen. Die amerikanischen Rüstungsausgaben hatten die vorläufige Rekordhöhe von 50 Milliarden Dollar erreicht, und die Russen präsentierten als schaurige Premiere die Wasserstoffbombe.
Die Spaltung Deutschlands war längst zementiert. Zwar gab es auf beiden Seiten wieder Politiker, aber je lauter sie redeten, desto beredter schwiegen sie sich darüber aus, daß sie nur als Satelliten ihrer jeweiligen Besatzungsmacht dienten.
Die Weichen waren gestellt.
Während die Invaliden des vorhergegangenen Krieges noch um ihre Renten feilschen mußten, erhob sich das neue alte Kreuzzugsgeschrei. Hinter dem Rücken von Kabinett und Parlament hatte der erste Bonner Bundeskanzler den Amerikanern deutsche Soldaten angedient. Es schien, als wäre der deshalb zurückgetretene Innenminister der einzige Protestant in Deutschland, das im Zuge der Freßwelle einen kurzen Weg vom Hungerödem zur Entfettungspille zurückgelegt hatte.
Im deutschen Osten regierte der Zwang; der Westen bediente sich subtilerer Methoden: Hundert Millionen Mark Wahlhilfe hatte die wiedererstandene Industrie gerade für die national-konservative Regierungspartei aufgebracht. Auf Plakaten, in Schlagzeilen und in Radios wurde das Lied vom großen Alten gesungen, dem ich schon deswegen und schon damals mißtraute, weil mir noch von Korea her die Hymnen auf einen anderen bösen Alten in den Ohren klangen.
In diesem Jahr wurde Elizabeth II. zur Königin von
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