Auf dem Rücken des Tigers
sie gesprochen werden sollte, hatten die Freunde auf den Umgang miteinander weitgehend verzichtet.
»Ich möchte deinen sukzessiven Suizid beenden«, sagte Wolfgang.
»Von mir aus«, antwortete Christian. »Wenn du es so nennen willst.«
»Du mußt vergessen.«
»Sag es meinem Gedächtnis. Ich kann nichts dafür, es ist angeboren.«
»Möglich«, erwiderte der Freund. »Ich halte es nur für übertrieben, daß ein Mensch stirbt, nur um sein Gedächtnis loszuwerden.«
»Ich habe es übrigens neulich versucht, mich umzubringen.« Während Christian sprach, wurden seine Lippen eckig: »Auch danebengegangen.«
»Was soll das«, fragte Wolfgang scharf.
»Kannst du mir sagen, wozu wir auf Erden sind?«
»Die Antwort ist individuell«, versetzte der Arzt, »jeder muß sie sich selbst geben.«
»Und du bist auf Erden«, erwiderte Christian tückisch, »um Leben zu erhalten, ohne zu wissen, warum es erhalten werden soll.«
»Aber fast in allen Fällen erhalten werden möchte«, versetzte der Prügel-Müller.
»Und dann in mancherlei Fällen von dir nicht erhalten werden kann«, konterte Christian, aus Verzweiflung böse.
»Ich habe den Tod nicht erfunden«, sagte Wolfgang. »Ich kann ihn nur bekämpfen.«
»Du kannst nur unterliegen«, versetzte der Freund. »Eines Tages wirst du es begreifen – und dann stehst du am Zenit, und dir wird schwindlig.«
»Mir wurde schon häufig schwindlig«, antwortete Wolfgang, »und ich erschauerte jedesmal«, setzte er hinzu, »wenn ich den einen oder anderen durchgebracht hatte.«
»Vorläufig«, erwiderte Christian.
»Vorläufig werden wir dieses Gespräch beenden«, antwortete Wolfgang. »Im übrigen bin ich Arzt und kein Theologe, kein Philosoph, kein Okkultist, kein Astrologe – und vor allem kein Spekulant.«
»Immerhin eine Gemeinsamkeit«, sagte Christian.
»Nicht die einzige«, versetzte Wolfgang; er sah aus wie in New York, hatte die wachen Augen eines Besessenen, der an das Leben glaubte und helfen wollte, allen und jedem, und nur sich selbst nicht helfen konnte, weil er ein menschlicher und kein medizinischer Fall war.
»Ich freue mich auf dich«, sagte er.
Christian wurde verlegen, weil er Rührung spürte. Er versuchte, seinem Gesicht eine Maske überzustülpen, aber Sentimentalität nistete schon in seiner zerknitterten Haut. Die hohlen Backenknochen waren nicht mehr zur Abwehr gespannt, die alten Augen nicht nach innen gekehrt.
»Ich auch …«, antwortete er, stand auf, kehrte dem Freund den Rücken und sah zum Fenster hinaus, als gäbe es etwas zu sehen, was seinen Blick anzog. Dabei wartete Christian nur, bis er sich seines Gesichts wieder sicher wäre.
Als Wolfgang gegangen war, hatte er Föhn und Herzkranzwarnungen vergessen. Er würde mit Christian über das Trauma reden. Gelänge es ihm, es zu zerschmettern, hätte er gleichzeitig die Verstiegenheit des Freundes, diese Selbstzerstörung beendet.
»Was Neues?« fragte er seinen Vertreter.
»Nichts Besonderes«, antwortete Dr. Federbein. »Sie sollten mal Pause machen.«
»Wie recht Sie haben«, erwiderte Wolfgang. Verwundert stellte er fest, daß es sich anhörte, als spräche er mit Christians Stimme.
»Und zwar für Wochen«, riet ihm sein Vertreter.
Der Chefarzt nickte. Warum nicht für Monate? Warum nicht für Jahre? Warum nicht überhaupt für immer?
Er ging in seine Wohnung, die in der Nähe, jedoch außerhalb des Klinikgeländes lag. Sie war nicht sehr wohnlich. Der Arzt hielt sich nicht viel zu Hause auf, und wenn, dann vorwiegend in seinem Arbeitszimmer gleich Hieronymus im Gehäuse.
Da er es nicht lassen konnte, glich dieser Raum, in dem der Prügel-Müller wohnte und schlief, mit seinem Waschbecken und der Hausapotheke daneben und den medizinischen Fachbüchern auch ein wenig einem Ordinationsraum, wenn auch mit einem französischen Kamin.
Wolfgang wusch sich die Hände.
Er dachte an die Schmerzen, die er nicht mehr spürte, bis auf das Schraubstockgefühl um den Kopf, an diese Landplage Föhn: sie nährte Depressionen, förderte Selbstmorde, verschuldete Verkehrsunfälle und beschleunigte Infarkte.
Alles forderte seinen Preis. Die Stadt München hatte mit ihrer Umgebung unter allen deutschen Städten den höchsten Freizeitwert; er war mit klimatischen Schwierigkeiten zu bezahlen, die zudem längst nicht alle Zuwanderer behelligten.
Wolfgang ging die Bestände seiner Hausapotheke durch.
Dann rief er den tüchtigen Dr. Federbein an: »Schicken Sie mir ein paar Ampullen
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