Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
immer getan, würde er mit einundfünfzig keinen Elerzinfarkt erlitten haben.
    »Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte Christian.
    »Eine Zumutung.«
    »Quatsch«, fing ihn Christian ab. »Was?«
    »Ich möchte ein zweites Bett in Dr. Müllers Schlafzimmer stellen. Ich möchte, daß Sie in dem zweiten Bett liegen, Tag und Nacht, einfach neben ihm liegen, gelegentlich ein paar Worte sprechen, nichts Besonderes, nur um ihm klarzumachen, daß er nicht allein ist. Verstehen Sie?«
    »Nein.«
    »Ich möchte Sie als psychologische Beruhigungsspritze verwenden.«
    »Mich?« versetzte Christian. »Das ist Unsinn. Ich wirke allergisch auf ihn.«
    »Das glauben Sie«, erwiderte der Arzt. »Ich weiß doch, wie Dr. Müller an Ihnen hängt. Wissen Sie nicht, daß er – daß er ein verschämter Freund ist?«
    »Ich weiß, was ich ihm angetan habe«, sagte Christian.
    »Um so besser«, antwortete der Arzt, »dann haben Sie allen Grund zur Wiedergutmachung.«
    Die Situation erschien Christian zwischendurch lächerlich. Sie lagen nebeneinander, wie ein altes Ehepaar in einem Doppelbett, das nur noch der Ruhe diente, einer absoluten Ruhe, einer Vorhalle des Todes – damit Wolfgang lebe.
    Christian begriff nichts von medizinischen Dingen, aber so viel verstand er, daß er sich dabei auf seinen Freund wie auf Dr. Federbein verlassen konnte. Und so lag er neben Wolfgang, sah in sein Gesicht, wartete, hoffte, verzweifelte – und das an jedem Tag und zu jeder Stunde.
    Die Zeit ließ sich Zeit, und er hatte Angst, als sie ihm jetzt ihre Rechnung präsentierte.
    Gott kommt nicht oft nach Vietnam, und so begegnete ich dort die Hölle: einer der Höllen, die sich der Mensch schafft, um unmenschlich bleiben zu können.
    Ein heißes, sumpfiges Land, in dem der Mord allgegenwärtig war wie die gelben Fliegen, die darauf warteten, ihre Gelege in die offenen Wunden der Sterbenden zu setzen, allgegenwärtig wie die Därme und Leber zerstörenden Amöben; allgegenwärtig wie die Siegesproklamation des französischen Oberbefehlshabers.
    Schon nach kurzer Zeit hatte ich begriffen, daß den Franzosen der Tag gehörte und die Vietminhs die Nacht beherrschten. Siegte das Expeditionskorps irgendwo oder gelang ihm auch nur ein unblutiger Rückzug wie in Na San, wurde eine internationale Schar ausgewählter und meistens betrunkener Berichterstatter in einer Militärmaschine nach Hanoi geflogen, mit vorgedruckten Informationen und erlesenen Speisen abgefüttert und schleunigst wieder zurückexpediert: in tausend Meter Höhe, gerade unerreichbar für die Vietminh-Flak.
    Jedenfalls: wir tauschten Informationen aus, die wir uns großmütig schenken konnten, weil die Zensur sie ohnedies nicht durchließ. Gelegentlich platzte am Postschalter eine Plastikbombe und zerriß einen Beamten oder ein paar einheimische Analphabeten, die ohnedies nichts auf dem Postamt zu suchen hatten.
    Während ich auf einen Major der Sûreté wartete, eine graue Eminenz, in Saigon nur ›le mandarin‹ geheißen, wurde eine Horde englischer und amerikanischer Zeitungskorrespondenten in die Bar gespült. Die Berichterstatter brauchten nicht zu bestellen, sie hatten alle ihre mit dem Namen gezeichneten Flaschen an der Theke stehen, und wenn eine Flasche herrenlos geworden war, ersetzte sie ein Grabkreuz.
    Ich fragte mich, warum diese Burschen für ein schäbiges Zeilenhonorar so viel riskierten.
    Ich tat zwar dasselbe, aber ich hatte einen plausiblen Grund, und er hieß Laura – und gehörte zu Wolfgang, meinem Freund.
    Auf der Flucht vor ihr wie vor mir war ich weit gereist, aber was ich seit meiner Ankunft in Saigon Nacht für Nacht unternommen hatte, wäre auch an jedem anderen Ort zu erledigen gewesen. Ich saß an der Bar und schüttete ›braune Jungs‹ in mich hinein, bis ich nicht mehr laufen, nicht mehr stehen und nicht mehr sitzen konnte und sich das Klappern der Eiswürfel in meinem Glas anhörte, als knirschten Zähne im Fieberwahn.
    Dann jeweils schälte sich aus dem Qualm der Gauloises und aus dem Whiskydunst Lauras Bild, halb verdeckt von Wolfgang und wenn ich ein Auge zukniff, sah ich sie doppelt, sah sie vor den Flaschen, die wackelten und sich drehten und doch nicht umfielen, niemals ausliefen und sich, wie von selbst, immer wieder nachfüllten.
    Ich war nach Saigon gekommen, um zu vergessen, aber jede Vietnamesin, der ich begegnete, verglich ich mit Laura. Ich starrte den Mädchen in den Fahrrad-Rikschas unter dem Sonnenbaldachin nach und stellte

Weitere Kostenlose Bücher