Auf dem spanischen Jakobsweg
Heiligenschein aus
der Tasche ziehen. Aber das waren ganz unbegründete Ängste. Offensichtlich machen
hier die Pilger gerne Station. So kommen auch heute viele, die man schon seit
Roncesvalles kennt, allmählich bis gegen Abend angestapft. Einige sind auch
schon vor uns da. Monique zum Beispiel, die auf dem Camino so schöne Lieder
singt. Aber auch Grace, die Engländerin, die den ganzen Weg durch England und
Frankreich bis hierher zu Fuß gewandert ist. Ein älterer Landsmann von ihr hat
mir bedeutungsvoll ins Ohr geraunt, sie sei mit ihrem Rucksack sogar durch den
Ärmelkanal geschwommen. Paolo, den wir an der Weinquelle des Klosters Irache
das letzte Mal gesehen haben, bearbeitet seine Blasen, die der Druck seines
schweren Körpers auf seine Sohlen verursacht hat. Der „Storch“ aus Belgien
benutzt zwischenzeitlich den Bus, humpelt aber trotzdem erbarmungswürdig herum.
Das zierliche Ehepaar aus Frankreich war schon vor uns da und sitzt schweigend
auf der Bettkante. Carmen liegt erschöpft auf ihrem Bett und verdreht die
kleinen schwarzen Augen, wenn man sie anschaut, ganz so, als wollte sie sagen:
mein Gott, was habe ich mir da angetan. Die Frau des Norwegers hat ihr Knie
dick verbunden und macht ein sehr nachdenkliches Gesicht. Jeanette erörtert mit
Tobias liturgische Fragen. Heinz schreibt etwas in sein Tagebuch. Und ich liege
auf meinem Bett, trinke Wasser und beobachte das alles. Aber nicht wenige, die
man bereits in Roncesvalles gesehen hat, kommen nicht mehr an. Von einigen
erfährt man, dass sie aufgeben mussten. Von anderen wird vermutet, dass sie
schon eine Etappe weiter sind.
Alle, die
hier sind, freuen sich auf die Tänzerinnen der Tanzschule von Logroño, die in
etwa einer Stunde im Innenhof unserer Herberge für uns Pilger und für einige
lokale Mäzene der Herberge spanische Folklore-Tänze aufführen werden.
Etwas später
verschwindet die Sonne hinter den Mauern, aber die milde Wärme eines spanischen
Sommerabends bleibt bei uns in den Räumen.
Unten im
Innenhof, in der Nähe der Bühne, herrscht bei adretten jungen Damen in
phantastisch schönen Kostümen bereits große Nervosität. Ein ständiges
Geschnattere und Gekichere und eine nur wenig ältere, aber besonders elegante
Dame, ganz offensichtlich die Leiterin der Tanzschule, hat einige Mühe, die
große Aufregung unter Kontrolle zu halten.
Allmählich
kommen jetzt auch die ersten Pilger auf ihren schweren Beinen in den Innenhof
gestapft, lassen sich genüsslich in die Sitze fallen und winken einander mit
etwas ungelenken Gebärden zu. Nacheinander kommen auch fein gekleidete Señoras
und Señores herein, von denen sich offensichtlich viele schon kennen. Mit
artiger Gebärde begrüßen sie sich, wobei die Herren zu den Damen besonders
liebenswürdig sind. Alle sprechen nur in gedämpftem Tonfall miteinander. An
ihren feinen, nicht von körperlicher Anstrengung gezeichneten Gesichtern und an
ihren diskreten Gesten kann man unschwer erkennen, dass es sich um Patrizier
der Stadt Logroño handeln muss.
Zu uns
Pilgern hält man zwar sorgsame, aber nicht verletzende Distanz, eine Mischung
vielleicht aus Neugierde und mildem Unverständnis. Aber könnten denn, so frage
ich mich, die Gegensätze überhaupt noch größer sein als zwischen den Menschen
in diesem Innenhof? Dort die etablierte urbane Gesellschaft mit ihren komplexen
Tagesproblemen und ihren allgegenwärtigen gesellschaftlichen Zwängen. Auf der
anderen Seite wir Pilger mit der nahezu grenzenlosen Ungebundenheit aller
Nichtsesshaften. Materiell gefesselt allein an Rucksack, Pilgerstock und
Sonnenhut, aber sonst in eine Freiheit entlassen, die sich in der Weite unserer
endlosen, einsamen Wege widerspiegelt. Dort die Parfümiertheit und materielle
Behaglichkeit und bei uns der Geruch von Sonne und Wind und Regen, vom Staub
der Straße und vom Schweiß unserer Mühen. Auch wenn wir täglich duschen und
unsere Kleider durch kaltes Seifenwasser ziehen: Wir haben wohl alle ein
bisschen Wildgeruch angenommen. Unser ganzer Habitus wird von diesem Hauch, von
dieser Aura des Unterwegsseins erfasst. Unser Körper wird von Tag zu Tag
härter, strapazierfähiger, den Gesetzen der Wildbahn angepasster, und unser
Selbstvertrauen wird zunehmend sicherer, in sich ruhender.
Später am
Abend, die spanische Folklore-Musik und die Tänze der jungen und schönen Frauen
sind nur noch Imagination, setze ich mich mit meiner schon fast leeren
Weinflasche noch einmal in den inzwischen dunkel gewordenen
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