Auf den ersten Blick
geschaut.
»Aber ich habe Deine Nachrichten gelesen und möchte Dir nur sagen, dass ich weiß, wie Du Dich fühlst. Ich würde Sarah auch nicht verlieren wollen. Und nach allem, was passiert ist, scheint es da noch ungeklärte Probleme zu geben. Falls Du mal darüber reden möchtest …«
Und da musste ich aufhören zu lesen.
Ich schrieb kurz zurück: »Danke, Gary, das ist wirklich nett von Dir«, und ging runter, um Dev zu überreden, dass er den Laden zumachte und mit auf ein Bier kam.
Denn, offen gesagt, Anna, manchmal ist Bier die Lösung für alles .
Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als allein im Restaurant zu sitzen, sagen einem Leute, die nicht oft allein in einem Restaurant sitzen. Mir ist das egal. Da komme ich wenigstens zum Nachdenken.
Mein Nachmittag mit Dev Ranjit Sandananda Patel endete im Postman’s Park. In letzter Zeit schien es, als landeten wir oft im Postman’s Park. Er liegt eingebettet zwischen Little Britain und der Angel Street, und wir gehen nur wegen der kleinen Gedenktafeln hin.
Ich will es erklären.
1887 unterbreitete George Frederic Watts, Sohn eines bescheidenen Klavierbauers, der Times eine mutige, neue Idee. Eine Idee zum ewigen Gedenken an den Heldenmut ganz normaler Menschen. Zum Anlass des goldenen Thronjubiläums von Queen Victoria sollte sie von ganz gewöhnlichen Menschen künden, die ihr Leben gaben, um ein anderes zu retten. Es war eine großartige Idee.
Dev und ich gingen jedes Mal dort vorbei, wenn wir uns in der Nähe herumtrieben – und da die Büros von London Now nur ein paar Minuten entfernt waren, kam das öfter vor. Heute hatte uns sogar unsere Kneipentour langsam, aber sicher auch dorthin geführt. Wir brauchten gar nichts zu sagen. Wir wussten, wohin wir gingen.
Jedenfalls brachte Watts’ Brief an die Times rein gar nichts. Niemand unterstützte ihn. Niemand glaubte an ihn. Aber er machte es trotzdem. Und nun gibt es entlang einer Kirchenmauer, mitten in der City of London, nur wenige Meter von dem entfernt, was einmal das Haupt postamt war, Dutzende und Aberdutzende Royal-Doulton- Gedenktafeln, von denen jede einzelne an eine andere Tat besonders selbstloser Tapferkeit erinnert.
Vor einer davon standen wir nun, und Dev hatte sich eine Zigarette gedreht.
GEORGE STEPHEN FUNNELL
Polizeiwachtmeister, 22. Dezember 1899.
Ging bei einem Brand im Elephant & Castle, Wick Road, Hackney Wick, zurück in die Flammen, um unter Einsatz seines Lebens eine Bardame zu retten.
Am liebsten mochte ich das Schweigen nach dem Lesen.
»Vielleicht«, sagte Dev irgendwann, »liegt es daran, dass wir keine Helden sind. Vielleicht fühlen wir uns wertlos, weil wir nie etwas Heldenhaftes getan haben.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich mich wertlos fühle.«
»Tust du aber, oder?«, sagte er. »Ich jedenfalls schon.«
Ich wandte mich ab und las die nächste.
ALICE AYERS
Tochter eines Maurergehilfen.
Rettete mit ihrem unerschrockenen Verhalten drei Kinder aus einem brennenden Haus an der Union Street, Borough, und verlor dabei ihr junges Leben.
»Ich meine, wir leben einfach unseren Alltag«, sagte Dev. »Du schreibst deine Kritiken, ich verkaufe meine Spiele, und manchmal verkaufst du meine Spiele, und ich schreibe deine Kritiken …«
Ich lächelte, Dev aber nicht.
»Es kommt uns so vor, als würden wir was tun«, sagte er. »Aber was tun wir denn eigentlich? Was werden wir jemals zu erzählen haben?«
Ich dachte darüber nach.
»Letzten Mittwoch hatte ich Suppe.«
Dev steckte seine Kippe an und schüttelte den Kopf.
»Ich meine es ernst, Jase. Was ist, wenn es beim Leben um den Moment geht? Und was ist, wenn man diesen Moment nicht nutzt? Was ist, wenn man den Moment nicht nutzt, und es kommt kein anderer mehr? Man könnte dich als Helden in Erinnerung behalten oder einfach nur als irgendeinen Menschen, der still und leise gelebt hat bis zu dem Tag, an dem er still und leise starb.«
Er deutete auf die nächste Gedenktafel.
»George Lee«, sagte er. »Brachte bei einem Brand in Clerkenwell ein bewusstloses Mädchen in Sicherheit, stürzte dabei sechsmal und erlag seinen Verletzungen. 26 . Juli 1876 .«
Er hielt inne.
»Der hat den Moment genutzt«, sagte er.
»Was empfehlen Sie mir denn?«, fragte ich den Kellner.
Das Abrizzi’s gefiel mir. Es hatte eine hübsche, funktionale Einrichtung (die ich »langweilig« werde nennen müssen), tüchtiges Personal (kalt? Nein … roboterhaft. Roboterhaft ist besser) und … also … ich weiß eigentlich gar nicht,
Weitere Kostenlose Bücher