Auf den ersten Blick
probiert.
Ich war raffiniert und sensibel vorgegangen. Nicht allzu volle Breitseite. Das war der Fehler, den manche Leute machten. Oft genug haben Dev und ich schon zu Hause gesessen, uns die Annoncen laut vorgelesen und uns gefragt, was die Gesuchte wohl denken mochte, sobald sie merkte, dass der Kerl, der sie auf dem Bahnsteig angestarrt hatte, vermutlich nicht nur liebestoll war, sondern außerdem eine Sammlung scharfer Messer und ein Exemplar vom »Fänger im Roggen« besaß.
So hatte ich gelernt, es richtig zu machen. Hatte gelernt, während die anderen um mich herum versagten. Kein »Ich glaube, ich liebe dich!« ( 18 . Juni) und kein »Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe!« ( 23 . Juni), und absolut kein »Ich muss dich wiedersehen wir müssen uns treffen ich möchte DEIN GESICHT BERÜHREN « ( 4 .– 9 . September).
»Wo bist du?«, war beliebt, wenn auch meist im Geheimen. Eine Drittelseite wie gewonnener, so zerronnener Liebe, voller Furcht und Sorge und vor allem … Hoffnung. Nur dreißig Worte standen einem zur Verfügung, um sein Anliegen vorzutragen. Um dem Menschen, den man nie kennengelernt hatte, zu sagen, dass man ihn gern kennenlernen würde. Um klarzustellen, dass man weder ein Mörder noch ein Schläger oder wiedergeborener Christ ist. Um einen Kaffee oder ein Abendessen oder einen Spaziergang durch die Heide vorzuschlagen. Um ihn davon zu überzeugen, dass euer gemeinsamer Moment ihm genauso viel bedeutet wie dir.
Und dann kannst du nur hoffen, dass derjenige es auch liest. Tolle Hoffnung. Dreißig gedruckte Worte auf Seite achtunddreißig eines Anzeigenblattes in einer Stadt mit acht Millionen Einwohnern. Es fühlt sich an, als würde man dreißig Worte laut in die Arktis hinausrufen und beten, der Wind möge sie dem einzigen Menschen auf der Welt zutragen, der sie hören soll. Aus der Arktis direkt in den zweiten Waggon einer Londoner U-Bahn. Und alles, weil du diesen Menschen gesehen hast – ein Mal.
Und doch funktioniert es. Manchmal zumindest. Man liest ständig davon, normalerweise in Blättern wie London Now . Die Geschichten beginnen mit Sätzen wie: »Pendler Darren Howe, 32 , wusste sofort, dass er in Julie Draper, 33 , die Liebe seines Lebens gefunden hatte, als er eines Abends seinen Zug nach Tottenham bestieg – das Problem war nur: Julie stieg aus!« , und enden mit Details zu ihrer Hochzeit und dem, was ihre Kollegen darüber denken.
Und diese Erfolge, diese kleinen Triumphe, geben jedem Einzelnen, der an diesem Murmeltiertag in einer U-Bahn durchgerüttelt wird, etwas, worauf er hoffen kann.
Ich hoffe, sie liest es. Ich hoffe, sie empfindet ebenso.
Ich hoffe, sie fragt sich, wo ich bin. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.
Mein Blick wanderte die Seite hinunter.
Wo bist du? Du warst letzten Montag im 182er am Neasden Shopping Centre. Ich hab dich angesehen, aber du hast aus dem Fenster geguckt. Käffchen?
Yo, viel Glück damit, Mann.
Wo bist du? Hab dich gesehen. Fetischparty, Covent Garden. Du warst die Riesennonne, die einem kleinen Asiatenjungen den Hintern versohlt hat. Ich war empört.
Wäre ich auch gewesen.
Ich las weiter, überflog die Anzeigen jetzt nicht mehr, sondern ließ sie auf mich wirken, verstand ihre Hoffnung, hoffte aber gleichzeitig, ich wäre nicht wie sie. Denn mein Moment war schließlich etwas ganz Besonderes gewesen. Einzigartig. Und verdiente eine Erhellung.
London Now bekommt sechzig Suchanzeigen täglich. Ebenso viele von Männern wie von Frauen. Und jede Suchanzeige bekommt etwa zwölf Antworten. Leute, die gern gesehen werden möchten. Erwählt werden. Der oder die eine sein. Egal für wen.
Während ich las, wurde mir richtiggehend übel vor Aufregung, als ich merkte, dass ich insgeheim hoffte – fast damit rechnete –, mich selbst darin zu finden. Den geheimnisvollen Mann auf der Charlotte Street. »Du hieltest meine Taschen und behieltest dann mein Herz«, so was in der Art. So sollte es sein. Romantisch. Vielleicht war ich ein Mann, der Beachtung fand. Vielleicht musste ich mich nicht als Nonne verkleiden und kleinen Asiatenjungs den Hintern versohlen, um eines zweiten Blickes würdig zu sein.
Ich las weiter, schneller jetzt …
Wo bist du? Ich sehe dich jeden Tag. Ich grüße dich jeden Tag. Kannst du in meinen Augen lesen? Ich vermisse dich jeden Tag. Ich liebe dich jeden Tag.
Was war dieser Mann von Beruf? Türsteher? Busfahrer? Portier? Wer war das Mädchen? Hatte sie ihn bemerkt? Nahm sie ihn wahr, oder war er
Weitere Kostenlose Bücher