Auf den ersten Blick
mal los«, sagte ich energisch nickend, um zu zeigen, ja, das hatte ich mir schon gedacht, ich wäre niemals davon ausgegangen, dass ich hier mit einer Frau beim Essen saß, die mich zu mögen schien, aber offenbar bemerkte sie mein langes Gesicht.
»O Gott, deshalb wollte ich mich doch nicht mit dir treffen!«, sagte sie. »Ich hab mich nicht nur mit dir verabredet, um dich um einen Gefallen zu bitten. Denkst du das etwa?«
»Na ja, ich meine … Eigentlich hatte ich gar nicht erwartet, überhaupt wieder von dir zu hören. Oder wenn doch, dann wohl erst, wenn die Kritik erschienen ist …«
Ernst sah sie mich an.
»Jason, ich bin nicht hinter deinen Kritiken her. Ich bin nicht mal hinter dir her.«
Sie aß ihren letzten Bissen Pie, und ich gab mir Mühe, nicht allzu enttäuscht zu wirken.
»Ich denke nur, du hast ein Problem.«
»Ich habe kein Problem«, sagte ich etwas zu schnell und bevor ich Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, was sie meinte.
»Natürlich hast du ein Problem. Neulich Abend habe ich dich gebeten, mir von dir zu erzählen, und was war das Erste, was du erzählt hast?«
»Das mit der Kamera?«, sagte ich.
Sie lächelte und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Eine Kluft entstand, eine peinliche, gähnende Pause, und sie hatte es offenbar nicht eilig damit, diese zu füllen.
»Okay«, sagte ich. »Ja, ich habe ein kleines Problem.«
»Die meisten Typen hätten versucht, mich zu beeindrucken«, erklärte sie. »Wenn ich sage: ›Erzähl mir was von dir‹, fangen sie an mit: ›Ich hab mal jemandem das Leben gerettet‹, oder ›Ich liebe Tiere‹ oder ›Mein größter Fehler ist, dass ich meistens zu nett bin‹. Aber du wolltest mir zeigen, dass du ein Problem hast.«
Ich brauchte einen Moment, betrachtete ihr Gesicht.
Warum sollte jemand, der keine Interessen verfolgte, so interessiert sein?, dachte ich unwillkürlich.
Und dann …
»Jason«, sagte eine strenge Stimme und brach das Schweigen.
Ich bin nicht scharf auf strenge Stimmen und bohrende Stille. Die versprechen normalerweise nichts Gutes. Ich blickte auf.
Worte schwirrten durch meinen Kopf.
»Ich glaube, du solltest dich mal eingehend selbst betrachten und vielleicht nicht so viel trinken, denn das viele Trinken ist nicht gesund, Jason.«
Ich nahm mein Glas fester in die Hand.
»Hallo, Anna«, sagte ich, und wäre ich in einem Comic, hätte ich es mit knirschenden Zähnen gesagt. Anna hatte so eine Art, mit mir zu reden, dass ich mir immer vorkam, als wäre ich bei etwas Verbotenem erwischt worden, genau wie jetzt. Eine Woge der Verlegenheit wallte in mir auf. Anna war Sarahs beste Freundin. Zumindest war sie es gewesen, bis ich auftauchte. Sie hatte für mich nicht sonderlich viel übrig, nicht annähernd so viel, wie sie offenbar für Gary übrighatte. Gary und sein Blockflötengesicht.
Nachdem Sarah mich nun los war, hatte sich Anna alle Mühe gegeben, wieder näher an Sarah heranzukommen. An Sarah und Gary. Und ich hatte immer schon vermutet, dass sie es tat, indem sie mich schlechtmachte. Nie wieder würde sie Sarah loslassen. Anna nährte sich von Informationen. Womit ich Klatsch und Tratsch meine. Gibt man Anna Klatsch und Tratsch, wird sie ihn nutzen und dafür sorgen, dass er sich verbreitet.
Ich schätze, wenn ich noch Lehrer wäre, würde ich sie folgendermaßen beurteilen:
Erscheinungsbild: Schmaler Mund, schmale Augenbrauen, schmale Nase, schmaler Körper, dünne Haut. Taschen voller Taschentücher. Immer erkältet und immer kalt.
Konversation: Übermäßiger Gebrauch der Phrase »Ich bin nur ehrlich!«, als wäre das eine Rechtfertigung für Gemeinheiten, und wir sollten ihr eigentlich zu ihrer wunderbar offenen Haltung gratulieren, denn sie ist ja nur ehrlich . Mag es nicht, wenn andere Leute ehrlich zu ihr sind, und wird sehr ehrlich, wenn man es tut.
Insgesamt: Meiden. Meiden meiden meiden. Bitte? Ich bin nur ehrlich.
»Wie geht es dir?«, sagte ich mit aufgesetztem Lächeln, wohl wissend, dass ich die Situation durchstehen musste, ohne etwas zu verraten, dann wäre sie bald wieder weg.
Anna schnalzte mit der Zunge und reichte Abbey die Hand, nutzte es als Gelegenheit, sie sich anzusehen, sie zu mustern, einen Blick auf ihr zerrissenes Bowie-T-Shirt und den knallblauen Eyeliner und die anderen Sachen zu werfen, die so gar nicht zu mir passten.
»Entschuldige, er ist so unhöflich, nicht?« Sie lachte, meinte damit aber eigentlich nur, dass ich unhöflich war. »Ich bin Anna … eine
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