Auf den Schwingen der Hölle - [ein Norwegen-Krimi]
Mitternachtssonne würde somit wieder die Nacht zum Tag machen, er aber brauchte die Dunkelheit zum Schlafen, um Kraft zu schöpfen für die kommenden Tage und um seine überreizten Nerven zu beruhigen.
Später, als Sarah schon schlief, holte er den Whisky aus dem Auto, saß reglos vor dem Zelt, blickte auf das Meer und trank aus der Flasche, einen langen Schluck, einen zweiten, einen dritten, und eine große innere Ruhe begann ihn zu erfüllen, so, als ob das Getränk durch seinen ganzen Körper fließen würde, durch alle Adern, vom Kopf bis zu den Zehen.
Dann holte er die Landkarte der Lofoten aus dem Auto und breitete sie vor dem Zelt aus, und sein Blick glitt über die Fischerdörfer, die er rot umrandet hatte, jedes einzelne, kein Dorf hatte er vergessen.
Und wieder blickte er auf den Namen eines Fischerdorfes, auf Reine. Wenn er es genau bedachte, so lief die Suche wohl auf dieses Fischerdorf hinaus. Die blonde Frau hatte es ihm sogar nachgerufen.
Reine!
Erneut setzte er die Flasche an den Mund und trank.
Heute, in dieser Nacht, die keine war, brauchte er den Whisky so dringend wie nie zuvor. Dann aber kam die Erinnerung, die aus sehr rasch vorübergleitenden Bildern bestand …
Hand in Hand schlendert er mit Manu über den Rummel, von Karussell zu Karussell. Sie klettert in eine Gondel des riesigen Kettenkarussells, das sich langsam und dann aber immer schneller und schneller zu drehen beginnt. Sie hebt die Arme in die Luft, als wolle sie noch höher hinauf, immer höher.
»Schneller!«, ruft sie. »Schneller!«
Er vernimmt ihre begeisterten Rufe, ihr Lachen. Ihre Wildheit ist oft kaum zu zügeln, er aber will ja auch für Manu keine Zügel, sie soll frei aufwachsen, ohne Zwang.
Sie blickt zu ihm herab, mit strahlenden Augen, die so groß sind wie die von Sarah, nur eine andere Farbe haben, die Farbe seiner eigenen Augen
.
»Papa«, ruft sie, »nochmal!«
Und er nickt, doch er weiß, dieser Fahrt werden noch viele folgen und auch auf anderen Karussells. Sie zieht ihn in eine Gondel hinein, zu einer rasenden kreisenden Jagd, bei der ihr Gefährt sich selbst noch um die eigene Achse dreht, so dass er froh ist, als die Fahrt endlich endet. Doch Manu hat nie genug, sie will kein Ende, will mehr und immer mehr …
Verzweifelt rieb er sich die Stirn. Diese Bilder, dachte er, bringen mich noch um den Verstand, sie sind Glück und Verderben zugleich.
Wieder hob er die Flasche an den Mund, trank und trank und eine wohlige, betäubende Wärme breitete sich in ihm aus.
Langsam setzte er die Flasche ab, betrachtete sie bedauernd, aber er musste morgen einen klaren Kopf haben, und so warf er sie weit von sich, hörte ihren dumpfen Aufschlag, irgendwo zwischen den sandigen, grün bewachsenen Hügeln.
Er hockte im Gras, legte die Stirn auf seine Knie, schloss erschöpft die Augen.
Unvermittelt spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Den Kopf hebend und mit nun geöffneten Augen, blickte er in Sarahs Gesicht.
»Wir sollten es lassen«, hörte er sie leise sagen.
Wütend schüttelte er ihre Hand ab, richtete sich auf, seine Augen funkelten sie an, in jähem Zorn.
Bestürzt wich sie einen Schritt zurück.
»Nie gebe ich auf!«, fauchte er sie an. »Nie!«
Beschwichtigend hob sie die Hände, noch immer erschrocken und mit vibrierenden Nasenflügeln.
»Und morgen«, fuhr er fort und hatte sich wieder in der Gewalt, sprach sehr beherrscht, »fahren wir nach Reine. Ich habe eine dunkle Ahnung, dass dort die Entscheidung fallen wird.«
Sarah erwiderte kein Wort, sie rieb sich mit dem Rücken der rechten Hand die Stirn, wieder und wieder. Ihr Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an.
»Wenn du meinst«, sagte sie dann leise, beinahe flüsternd und blickte hin zum Wasser.
»Es bleiben nur noch vier Dörfer«, sagte er, »Reine ist eines dieser Dörfer, und dort werde ich ihn finden!«
Wie in Trance kehrte sie ihm ihr Gesicht zu, leichenblass. Sie ist am Ende, dachte er bestürzt, doch helfen kann ich ihr nicht. Sie will keine Rache, keine Vergeltung für diesen sinnlosen Tod, jetzt wo wir dem Mörder unseres Kindes so nahe sind. Aber ich muss sie zwingen mir zu helfen. Er bebte jetzt am ganzen Körper.
»Bitte, Sarah«, bat er, »Bitte. Denk an Manu. Wie sie gelitten hat.«
»Bitte«, sagte er noch einmal.
Und er dachte: Sie ist zu schwach, sie kann zu einer Gefahr werden mit dieser Schwäche. Sarah wird zu einem Problem werden. Sie ist eine Gefahr. Das musst du in Zukunft bedenken. Immer!
Sie
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