Auf Den Schwingen Des Boesen
geschlafen zu haben?
»Ellie«, sagte Nathaniel plötzlich. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Ich merkte, dass ich die ganze Zeit auf den Boden gestarrt hatte und die Armlehne der Bank krampfhaft umklammert hielt. Ich entspannte mich und sah Nathaniel an. »Ja. Es ist nur ganz schön viel zu verdauen.«
Er legte beruhigend die Hand auf meine. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Du solltest dich ausruhen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss Bastian verfolgen und ihn für das bezahlen lassen, was er meinen Eltern angetan hat.«
Er strahlte mich an. »Ich muss schnell in die Bibliothek und ein paar Hinweisen nachgehen. Vielleicht habe ich herausgekriegt, wo sich meine Grimoire-Abschrift befindet. Einer deiner umtriebigeren Nachkommen ist ein begeisterter Sammler göttlicher Artefakte. Wenn ich die Abschrift zurückbekomme, finden wir vielleicht heraus, wie wir dich in deine Erzengelform zurückverwandeln können.«
»Hältst du das für möglich?«, fragte ich.
Lächelnd erhob er sich. »Alles ist möglich.« Dann verschwand er und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Das Haus war still, und tatsächlich fing es bald an zu regnen, genau wie Nathaniel es vorausgesagt hatte. Nach unserem Gespräch zog ich mich ins Arbeitszimmer zurück und machte es mir auf der gepolsterten Fensterbank des großen Erkerfensters bequem, um eine Weile zu lesen.
Später am Nachmittag fühlte ich mich ein bisschen einsam und legte das Buch zur Seite. Da ich fast keine sauberen Anziehsachen mehr hatte, musste ich bald waschen, es sei denn, ich würde zu Nana fahren. Doch noch war ich nicht bereit, in die Welt der Sterblichen zurückzukehren.
Da ich Hunger hatte, schlich ich in die Küche, um mir ein Putensandwich zu machen, und fragte mich, wo Will wohl sein mochte. Seit unserer Rückkehr vom Joggen hatte ich ihn nicht mehr gesehen und beschloss, ihn zu suchen. Es war immer noch still, doch dann hörte ich die sanften Töne von Wills Akustikgitarre und folgte dem Klang die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und ich ging hinein. Er saß auf dem Bett und spielte gedankenverloren vor sich hin. Als er mich sah, blickte er auf.
Ohne etwas zu sagen, setzte ich mich zu ihm. Rücken an Rücken saßen wir auf dem Bett, während er fehlerlos weiterspielte. Mit geschlossenen Augen gab ich mich den melodischen Klängen hin. Ich spürte, wie seine Schultern und Arme sich im Rhythmus der Musik bewegten. Ich erkannte das Lied nicht wieder, aber es war wunderschön und so sanft, dass er mich selbst mitten auf dem Schlachtfeld in den Schlaf gewiegt hätte.
»Was ist das für ein Lied?«, fragte ich. »Ich kenne es gar nicht.«
»Ich habe es für dich geschrieben.«
Ich kuschelte mich noch dichter an seinen Rücken und genoss das warme, wohlige Gefühl, das in mir aufstieg. Als ich mich zu ihm umdrehte, strich sein Haar über meine Wange. »Es ist wunderschön.«
Ich vergaß die Realität, hingerissen von dem zärtlichen Lied, das er für mich komponiert hatte. Eine Ewigkeit saßen wir so da, Rücken an Rücken auf seinem Bett, und jede seiner winzigen geschmeidigen Bewegungen berührte all meine Sinne. Ich vergaß alles außer ihm, vergaß meine Eltern, Nana, meine Freunde, den Enshi, Bastian, Merodach und Kelaeno, Cadan … alle waren in diesem Augenblick bedeutungslos. Das Einzige, was zählte, war das Lied, das Will für mich spielte.
Als es zu Ende war, stand ich auf, und Will schaute zu mir hoch. Stille senkte sich schwer auf mich herab, wie der Druck, den man auf dem Körper spürt, wenn man tief unter Wasser getaucht wird.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
Ich zuckte die Achseln und lächelte matt. »Ich bin müde. Ich glaube, ich geh wieder nach unten und lese mein Buch zu Ende.«
Er nickte, und als ich sein Zimmer verlassen hatte, waren keine Gitarrenklänge mehr zu hören. Ich kehrte ins Arbeitszimmer zurück und fühlte mich mit einem Mal vollkommen erschöpft. Statt mein Buch weiterzulesen, setzte ich mich wieder auf den Fenstersitz, zog die Knie an die Brust und schaute hinaus auf den dunklen, regengepeitschten See.
Ich fror am ganzen Körper und stellte mir vor, dass meine Mom die Arme um mich schlang und mich an sich drückte. In meiner Erinnerung streichelten ihre Hände mein Haar und flochten meine widerspenstigen roten Locken zu Zöpfen. Ich wünschte, ich hätte sie nicht so oft belogen oder sie allein gelassen, weil ich lieber zu meinen Freunden wollte. Es heißt, wenn man einen
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