Auf den zweiten Blick
habe?« murmelte Alex. »Meine eigenen Eltern haben sich einen feuchten Dreck um mich geschert, und von dort aus ging es direkt in ein Leben, in dem Fremde meinen Müll durchwühlen, weil sie wissen wollen, was ich zum Frühstück gegessen habe.« Er zog mich auf seinen Schoß und vergrub sein Gesicht in meinem Haar. »Weißt du, was ich gern tun würde?« sagte er. »Ich würde gern zu dem Typen hinfahren, der meine Anzüge schneidert, statt ihn herzubestellen. Und ich würde dir gern Blumen von einem Straßenverkäufer kaufen, der meine letzten drei Filme nicht gesehen hat. Oder mit dir zum Essen gehen, und deine Scheißfreundin ruft die Presse an, und die Reporter fragen: >Alex wie?<«
Er schloß die Hand um meine Brust, und sie ruhte darin wie eine schlichte, feste Wahrheit. »Als Kind lag ich oft nachts im Bett und wünschte mir, jemand wäre wirklich daran interessiert, daß ich am nächsten Morgen aufwache – nicht nur, damit er jemanden zum Rumschubsen hat.« Er küßte mich auf den Scheitel und drückte mich fester an seine Brust, als könne er mich so vor seiner eigenen Vergangenheit beschützen. »Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, Cassie«, sagte er leise. »Sie könnten in Erfüllung gehen.«
16
»Ich hab ‘ dir was mitgebracht.«
Alex’ Stimme kam von hinten, und ohne daß ich es wollte, krampften sich meine Finger um die Armlehnen des weißen Korbsessels. Ich drehte mich nicht um, sondern blickte starr geradeaus über das Geländer des Balkons und zählte die Schritte, die Alex brauchte, um von der Schlafzimmertür zu mir zu gelangen.
Er stellte den Tee neben mir ab, auf einer schlichten Untertasse und schon mit Milch, was verriet, daß Alex ihn selbst gekocht hatte, statt die Köchin darum zu bitten. In der Ferne hörte ich das Rauschen des nachmittäglichen Verkehrs und Möwenschreie, als sei dies ein Tag wie jeder andere.
Alex kniete vor mir nieder und legte die verschränkten Arme auf meine Knie. Ich starrte ihn an wie unter Schock, und ich schätzte, das war ich auch. Ich registrierte die makellose Regelmäßigkeit seiner Züge, als würde ich sie zum ersten Mal sehen. »Cassie«, flüsterte er, »es tut mir leid.«
Ich nickte. Ich glaubte ihm; ich mußte ihm glauben.
»Es wird bestimmt nicht wieder vorkommen«, sagte er. Er legte den Kopf in meinen Schoß, und wie von selbst begannen meine Hände das Haar, das Ohr, das Kinn zu streicheln, die mir so vertraut waren.
»Ich weiß«, sagte ich. Aber noch während ich die Worte aussprach, sah ich vor meinem inneren Auge das Bild eines jener Stürme, die über den Mittleren Westen hinwegfegen, die Welt aus den Angeln heben, und danach, wie ein Sühneopfer, einen Regenbogen an den Himmel zaubern, der einen alles vergessen machen soll.
»Wenn wir über den Knochen sprechen«, erklärte ich dem Meer von Gesichtern im Auditorium,« dürfen wir nicht vergessen, daß er ganz anders ist, als wir ihn uns gemeinhin vorstellen.« Ich trat hinter dem Pult hervor und stellte mich neben das kleine Demonstrationstischchen, das ich vor der Vorlesung aufgebaut hatte. Der Kurs lief schon seit fast zwei Monaten, und ich gab mir alle Mühe, den Studenten das nötige Hintergrundwissen zu vermitteln, bevor wir gegen Ende des Semesters zu einer Ausgrabung aufbrechen würden. »Wenn wir einen Knochen ausgraben, halten wir ihn für etwas Festes, Statisches, während er in Wahrheit nicht weniger lebendig war als das übrige Körpergewebe.«
Ich lauschte dem Kratzen der Stifte auf dem linierten Papier, während ich die Eigenschaften eines Knochens in einem lebenden Organismus aufzählte. »Er kann wachsen, er kann erkranken, er kann sich selbst heilen. Und er paßt sich den Bedürfnissen des Individuums an.« Ich hob zwei Oberschenkelknochen von dem Demonstrationstischchen hoch. »Knochen werden zum Beispiel kräftiger, wenn es erforderlich ist. Dieser Oberschenkelknochen stammt von einem dreizehnjährigen Mädchen. Vergleichen Sie ihn mit diesem hier, der einem olympischen Gewichtheber gehörte.«
Ich hielt diese Vorlesung gerne. Zum Teil wegen der höchst senationellen Demonstrationsstücke, zum Teil weil ich damit die Vorstellungen der Studenten, was Knochen anging, grundlegend erschüttern konnte. »Knochen bestehen keineswegs aus anorganischem Material wie Kalk. Vielmehr haben wir es mit einer organischen Verbindung von Gewebe und Zellen zu tun, die anorganisches Material wie Kalziumphosphat enthalten. Es ist die Kombination, die dem Knochen seine
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