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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Oberschenkelknochen, die seine Finger vor wenigen Sekunden berührt hatten. Ein paar andere Studenten folgten ihnen.
    »Erstens dauert so etwas viele Jahrhunderte. Und selbst wenn der Kalziumgehalt abnimmt, dann doch niemals so drastisch; deshalb behalten die Knochen normalerweise ihre Form. Natürlich, ab und zu, wenn das Klima und der Boden stimmen« - ich kramte in einem halb gepackten Karton herum - »stößt man auf so was.« Ich hielt einen Kiefer hoch, der in einem irischen Hochmoor gefunden worden war und aus der Eiszeit stammte. Er war zu einem perfekten Ring gebogen. »Der Knochen hat diese Form angenommen, weil so viele andere Knochen auf ihm lagen.«
    Daraufhin strichen ein Dutzend Hände eine ganze Weile über die Demonstrationsstücke, die ich mitgebracht hatte. Über die Köpfe der Studenten hinweg fing ich Alex’ Blick auf. Er verstand es wirklich, die richtigen Fragen zu stellen. Um ehrlich zu sein, wenn er nicht ein so guter Schauspieler gewesen wäre, hätte er einen ausgezeichneten Anthropologen abgegeben. Er kam hinter das Pult und legte mir den Arm um die Taille. Als hätten die Studenten den Hinweis verstanden, schauten sie auf und schlenderten schwatzend aus dem Hörsaal.
    »Alles Gute zum Hochzeitstag«, sagte Alex und gab mir einen Kuß.
    Ich machte die Augen nicht zu. Um uns herum tanzten Staubkörnchen im Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel. »Alles Gute zum Hochzeitstag«, murmelte ich. Ich befreite mich aus seiner Umarmung und packte sorgfältig die Knochen wieder ein, die die Studenten untersucht hatten. »Laß mich nur schnell aufräumen, dann können wir verschwinden.«
    Er legte mir die Hände auf die Schultern und zog mich zwischen seine Beine. »Ich will ein Experiment machen«, sagte er. »Bist du bereit?«
    Noch während ich nickte, sah ich seinen Mund auf mich zukommen. Erst bewegten sich seine Lippen auf meinen, so daß wir gemeinsam flüsterten, doch dann wurde sein Kuß so stürmisch, daß er meinen Kopf festhielt, damit ich mich nicht entziehen konnte.
    Als er den Kopf wieder hob, lag ich quer über ihm und wußte kaum mehr, wo ich war. »Ganz wie ich vermutet habe«, murmelte er. »Ich wollte bloß mal sehen, ob Knochen auch weich werden können, ohne daß man sie in Säure legt.«
    Ich legte meine Wange an seine Brust und lächelte. »Und wie«, sagte ich.
    Es war nur ein Augenblick, ein einmaliger Ausrutscher gewesen, und Alex beteuerte, es würde nicht wieder vorkommen. Ich flüsterte mir das immer und immer wieder vor. So etwas passierte ausschließlich anderen – Leuten, von denen man in den Nachrichten hörte, aber bestimmt nicht Alex und mir. »Cassie?«
    Als ich Ophelias Stimme hörte, packte ich die dicke Decke, die über dem Korbschaukelstuhl hing, und zog sie mir um die Schultern. Nicht daß ich fror, aber sie sollte nicht sehen, was passiert war.
    Nach jenem katastrophalen Abend im Nicky Blair’s vor einem Jahr hatten Ophelia und ich langsam wieder zueinander gefunden. Ich brauchte sie; außer Alex hatte ich sonst niemanden, mit dem ich reden konnte. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie sich jemals entschuldigt hätte, aber andererseits hatte ich auch aufgehört, mich für meine Ehe mit Alex zu entschuldigen, und ich ließ keinen Zweifel daran, daß ich zu ihm hielt. Solange sich bei Ophelias Besuchen ihre Wege nicht kreuzten, gab es gewöhnlich keine Probleme. Tatsächlich war unsere Beziehung fast wie früher: Ophelia besuchte mich und redete über sich selbst, und da mein Leben sich vor allem um Alex drehte, hörte ich ihr meistens schweigend zu.
    Ophelia streckte den Kopf durch die Balkontür unseres Schlafzimmers. »Da bist du ja«, sagte sie. »Und ich dachte schon, du hättest dich einmal vom Fleck bewegt, ohne John Bescheid zu sagen.«
    Ich versuchte zu lächeln. »Mir paßt es gerade nicht so gut«, antwortete ich ausweichend.
    Ophelia wedelte meinen Einwand beiseite. »Ich weiß, ich weiß. Die erlauchten Rivers’ müssen heute abend auf eine Premiere. Aber ich wollte nur fragen, ob ich mir dein rotes Abendkleid ausleihen kann.«
    Ich runzelte die Stirn; ich wußte nicht mal, daß ich ein rotes Abendkleid besaß, aber Ophelia kannte sich in meinem Kleiderschrank weit besser aus als ich. »Wieso?«
    »Ich singe heute abend in einem Bluesclub.« Ophelia lehnte sich an das Balkongeländer und legte sich wie ein Vamp den Arm hinter den Kopf.
    »Du kannst doch gar nicht singen«, wandte ich ein.
    Ophelia zuckte mit den Achseln. »Stimmt, aber das

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