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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Elastizität und auch seine Festigkeit verleiht.«
    Aus den Augenwinkeln sah ich Archibald Custer in der Tür lehnen. Letztes Jahr hatte er mir vorgehalten, ich würde die Wissenschaft vermitteln wie ein Sensationsreporter. Und ich hatte ihm widersprochen. Ohne dabei witzig sein zu wollen, bemerkte ich, daß eine bloße Vorlesung über die Natur des Knochens viel zu trocken sei, um die jungen Leute eine Stunde lang wachzuhalten, geschweige, daß man sie auf diese Weise für Anthropologie begeistern könne. Seit Alex’ Spende hatte Custer nicht mehr den Mumm, meine Unterrichtsmethoden zu kritisieren oder mir einen anderen Kurs zuzuteilen. Wahrscheinlich hätte ich nackt unterrichten können, ohne daß mir das beruflich geschadet hätte.
    Mein Blick wanderte über die letzte Reibe, haarscharf unter Custers fest verschränkten Armen entlang. Ein Junge mit Kopfhörer, zwei tuschelnde Mädchen, Alex.
    Manchmal kam er, um mir beim Unterrichten zuzuschauen; er sagte, er sei immer wieder erstaunt, wieviel ich wisse. Er schlüpfte immer erst in den Saal, nachdem ich angefangen hatte, um nicht von meiner Vorlesung abzulenken; gewöhnlich trug er eine Sonnenbrille, als könne er sich tatsächlich dahinter verstecken. Die meisten Studenten wußten, daß ich mit ihm verheiratet war - ich glaube, manche schrieben sich für meinen Kurs nur ein, weil sie wissen wollten, wie ich war, oder weil sie auf eine Begegnung mit Alex hofften.
    Ich grinste ihn an, und er setzte die Sonnenbrille ab und zwinkerte mir zu. Wenn Alex mir zuhörte, war ich in Höchstform. Wahrscheinlich wollte ich ihm auch mal was vorspielen. »Man kann feststellen, wie groß der Anteil an organischem Material in einem Knochen ist, wenn man ihn eine Zeitlang in Säure legt. Dadurch lösen sich die Salze, und das organische Material bleibt zurück – in dergleichen Form wie vor dem Säurebad. Aber«, sagte ich und zog das Wadenbein aus der Glasschale, in der es gelegen hatte, »sobald die Salze ausgewaschen sind, wird der Knochen biegsam.« Ich nahm den langen Knochen an den Enden und ließ ihn in der Mitte durchhängen, bevor ich ihn zu einem losen Knoten schlang.
    »Ach du Scheiße«, flüsterte ein Erstsemester in der vordersten Reihe.
    Ich lächelte ihn an. »Genau das habe ich mir auch gedacht.« Nach einem kurzen Blick auf meine Uhr trat ich wieder hinter mein Pult und schob meine Unterlagen zusammen. »Vergessen Sie nicht die Klausur nächsten Donnerstag.«
    Custer war schon fort, und die Studenten strömten den Mittelgang hinauf und in den Flur hinaus. Normalerweise kamen nach dieser Vorlesung ein paar von ihnen an den Demonstrationstisch, um den Gummiknochen zu drücken, den Knoten zu lösen, mit den Fingern darüberzustreichen. Ich beantwortete dann ihre Fragen und ließ sie gewähren, solange sie wollten. Schließlich lernte man Anthropologie am besten aus persönlicher Erfahrung.
    Aber dieses Jahr kam niemand nach vorne, obwohl mir die Gruppe gebannt zugehört hatte und meine Vorlesung nicht anders gewesen war als im vergangenen Jahr. Leise räumte ich meinen Tisch auf und packte die Demonstrationsknochen in weiche Watte. Ich fragte mich, ob ich allmählich den Zugang zu meinen Studenten verlor.
    Ich schaute auf, weil mir einfiel, daß Alex wahrscheinlich auf mich wartete, und sah, wie sich im Mittelgang die Studenten um ihn drängten und ihm ihre Anthropologiebücher für ein Autogramm hinhielten.
    Ich wurde blaß. Moment mal, wollte ich sagen, sie gehören mir. Aber die Worte blieben mir im Hals stecken, und als sich der erste Zorn gelegt hatte, wurde mir klar, daß ich keinen Grund zur Eifersucht hatte. Alex hatte sie nicht absichtlich um sich versammelt, und ich konnte nicht mit Sicherheit behaupten, daß jemand an meinen Tisch gekommen wäre, wenn er nicht dagewesen wäre.
    Er schob sich an den Studenten vorbei, steckte die Hände in die Hosentaschen und baute sich vor dem Tisch und den Knochen auf, die inzwischen ordentlich verpackt in ihren Kisten lagen. »Werden nicht auch Salze in den Boden ausgewaschen, wenn ein Knochen fossiliert?« fragte Alex laut.
    Ich lachte: trotz seines scheinbar ungeteilten Interesses wußte ich genau, was er da tat. »Natürlich«, antwortete ich.
    »Wieso findet man dann nie Knochen, die so weich sind wie der hier?« Er deutete auf den immer noch verknoteten Knochen in seiner Säurelösung. Zwei Studentinnen kamen den Mittelgang wieder herunter, stellten sich neben Alex und betasteten die ausgestellten

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