Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
den kühlen, dunklen Kirchenbänken saß und die Schatten verfolgte, die das bunte Glas warf, dann würde die Welt vielleicht wieder so werden, wie sie einst gewesen war.
    Ich sehnte mich danach, katholisch oder überhaupt gläubig zu sein – aber ich konnte nicht ehrlich behaupten, daß ich an irgend etwas glaubte. Ich bezweifelte, daß es einen gnädigen Gott gab. Ich schloß die Augen, und statt zu Jesus zu beten, betete ich zu Connor. »Ich wünschte, du wärst hier«, flüsterte ich. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich brauche.«
    Ich blieb dort sitzen, bis das harte Holz in meine Schenkel schnitt. Mittlerweile ging das einzige Licht in der kleinen Kirche von den weißen Kerzen aus, die auf einem Tisch weiter hinten brannten. Benommen stand ich auf. Mir war klargeworden, daß es etwas anderes gab, an das ich immer noch glaubte: Ich glaubte an Alex und mich. Trotz dieses ewigen Kreisens glaubte ich daran, daß wir zusammengehörten.
    Ich schlüpfte durch das schwere Kirchenportal und hielt ein Taxi an. Als ich die Haustür berührte, schwang sie auf. Drinnen war es stockdunkel. Alex saß auf der untersten Treppenstufe, den Kopf in beide Hände gestützt.
    In jener Nacht begriff ich zweierlei: daß Alex tatsächlich geglaubt hatte, ich habe ihn endgültig verlassen, und daß alles, was ich in der Hitze des Gefechts gesagt haben mochte, nur eine leere Drohung gewesen war. Von dem Augenblick an, wo ich zur Tür hinausgegangen war, war ich immer nur zu ihm zurückgekehrt.

18
     
    Neben mir lag ein Stapel kitschiger Drehbücher. Eigentlich war das nicht meine Aufgabe, aber trotzdem las ich gern darin. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Alex die Anweisungen nachspielte, wie er die Worte auf der Seite nachsprach. Die meisten Drehbücher legte ich nach den ersten paar Seiten weg, aber wenn eines mehr versprach, las ich es bis zum Schluß.
    Ich war in Alex’ Büro in den Studios der Warner Brothers. An den Tagen, wo ich nicht unterrichten mußte und keine Lust zum Forschen hatte, kuschelte ich mich auf das plüschige Sofa und wartete, bis er mit dem fertig war, was er an diesem Tag gerade tat, so daß wir zusammen heimfahren konnten. Heute war Alex im Tonstudio und vertonte seinen neuesten Film nach. Es würde noch ein paar Stunden dauern, ehe er mich abholte. Seufzend nahm ich das oberste Drehbuch vom Stapel und begann zu lesen.
    Zwei Stunden später ließ ich das Drehbuch fallen und rannte über die Hauptdurchfahrt zwischen den einzelnen Studiogebäuden. Ich wußte in etwa, wo die Nachvertonung stattfand, dennoch stürzte ich erst in drei andere Räume, ehe ich Alex fand. Er beugte sich neben einem Techniker über ein elektronisches Schaltpult, und als er mich sah, nahm er den Kopfhörer ab.
    Ich ignorierte den strengen Zug um seinen Mund und den Blick, der verhieß, daß ich später für diese Unterbrechung zurechtgewiesen werden würde. »Komm mit«, sagte ich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ich habe einen Film für dich.«
    Die allererste Einstellung in Die Geschichte seines Lebens zeigte einen Mann, der seinen Vater sterben sieht. In einem Krankenhauszimmer voller Schläuche und Drähte und piepsender Maschinen beugte er sich zu der papierdünnen Wange hinunter und flüsterte: »Ich liebe dich.«
    Der Film drehte sich um einen Vater und einen Sohn, die nie wirklich miteinander kommuniziert haben, weil das ihrer persönlichen Definition des Mannseins widersprochen hätte. Der Sohn, der jeden Kontakt zu seinem überheblichen und überkritischen Vater abgebrochen hat, kehrt erst nach Hause zurück, als seine Mutter bei einem Autounfall stirbt. Er ist inzwischen ein weitgereister Fotoreporter; sein Vater ist, was er immer war, ein einfacher, ungebildeter Maisfarmer aus Iowa. Der Sohn sieht sofort, wie wenig er mit seinem Vater gemein hat, wie alt sein Vater geworden ist, wie schwierig es ist, ohne die Frau, die als Puffer zwischen beiden diente, mit ihm zusammenzuleben.
    Aus vielschichtigen Motiven heraus beginnt der Sohn eine Fotoreportage über den Feldzug seines Vaters gegen die Regierung zu entwerfen. Dabei zeigt er ihn ganz objektiv als unabhängigen Farmer, der mit Preisbegrenzungen drangsaliert wird, bis er nicht mehr von seinen Erträgen leben kann. In Rückblenden sieht man, wie die Mauer zwischen Vater und Sohn entstanden ist; später zeigt der Film, wie diese Mauer allmählich wieder abgebaut wird, als der Sohn die Kamera beiseitelegt und gemeinsam mit seinem Vater auf dem Feld

Weitere Kostenlose Bücher