Auf den zweiten Blick
arbeitet. Erst jetzt lernt er ihn wirklich und nicht nur als unbeteiligter Beobachter kennen.
Höhepunkt des Filmes ist eine atemberaubende Szene zwischen Vater und Sohn. Der Sohn, der seinem Vater immer wieder die Hand zum Frieden reichen wollte, wird vom Vater immer noch auf Distanz gehalten; tatsächlich scheinen sich die beiden nur dann zu verstehen, wenn sie Seite an Seite in den Maisfeldern arbeiten. Der Sohn, der durch die schroffe Kritik seines Vaters an seinem Leben ständig zurückgewiesen wird, explodiert schließlich. Er brüllt, daß er seinem Vater lange genug Gelegenheit gegeben habe, ihn als das zu sehen, was er wirklich ist, daß jeder andere Vater stolz wäre, wenn es sein Sohn so weit gebracht hätte, daß er nie um die halbe Welt hätte reisen müssen, um seinen Platz zu finden, wenn man ihn zu Hause akzeptiert hätte. Der Vater schüttelt nur den Kopf und geht weg. Erst als der Alte nicht mehr vor ihm steht, nimmt der Sohn die Landschaft wahr - weite Felder, die alle seiner Familie gehören. Und ihm fällt auf, daß er als Kind oft auf dem gleichen Fleck gestanden, aber nie die weiten, grünen Felder gesehen hat - nur ihre Grenzen, nur das, was dahinterlag.
Aber ihm wird auch klar, daß sein Vater ihn als Kind so verletzt hat, weil es seinem Vater immer noch lieber gewesen war, von seinem Sohn als strenger, fordernder Tyrann betrachtet zu werden statt als das, was er wirklich war - ein Farmer, der es nie zu etwas gebracht hat. In seiner Vorstellung war ein Mistkerl immer noch besser als ein Versager.
In dem Film findet während der Ernte eine stumme Versöhnung statt, weil sie Worte in der Vergangenheit nur entzweit haben. Und dann, am Ende des Filmes, veröffentlicht der Sohn seine Fotoreportage und breitet sie auf dem Krankenbett seines Vaters aus: gefühlvolle Bilder, nicht von einem Opfer oder einem Versager, sondern von einem Helden. Laut Drehbuchanweisung wird danach aufgeblendet, bis alles weiß ist, dann kommt die letzte Szene, in der sein Vater, um Jahrzehnte jünger, ein lachendes Baby in die Arme nimmt. Wir sind zum Anfang zurückgekehrt. »Ich liebe dich«, sagte er, und damit endet das Drehbuch.
Noch während ich das Drehbuch las, war mir klar, daß Alex diesen Film drehen mußte. Mir war aber auch klar, daß ich mit dem Feuer spielte. Falls er den Sohn darstellte, würde noch mehr Wut an die Oberfläche dringen. Wenn er die Streitszenen durchging, würde er sich diesem Zorn stellen müssen. Und Alex würde von den Dreharbeiten heimkommen und den neuen, scharfen Schmerz lindern, indem er mich schlug.
Aber ich wußte, daß er mir nie weh tun wollte. Und ich wußte, daß alles nur mit jenem Teil von Alex zusammenhing, der sich immer noch für unzulänglich hielt. Wenn Alex gezwungen wurde, sich dieser Seite seines Wesens zu stellen, würde sie vielleicht für immer exorziert werden.
Ich dachte, er würde mich umbringen. Er stand im Bad über mir und trat auf mich ein, das Gesicht zornverzerrt. Er zog mich an den Haaren hoch, und als ich mich schon fragte, was er mir wohl noch antun könne, schleuderte er mich gegen die Toilette und marschierte davon.
Zitternd stand ich auf und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Diesmal hatte er mich mit dem Handrücken auf den Mund geschlagen, was mich überraschte - blaue Flecken im Gesicht konnte man kaum verbergen, und normalerweise hatte er sich noch weit genug unter Kontrolle, um nicht dorthin zu schlagen. Ich preßte ein Klopapierknäuel auf das Blut in meinem Mundwinkel und versuchte, die Frau wiederzuerkennen, die mich aus dem Spiegel ansah.
Ich wußte nicht, wohin Alex gegangen war, und im Grunde war es mir auch egal. Ich hatte so etwas erwartet. Alex hatte heute Die Geschichte seines Lebens fertig gelesen, und ich hatte gewußt, daß er sich danach so fühlen würde. Es war der erste Schritt hin zu einer Heilung; der zweite Schritt wäre, daß er sich für den Film engagierte.
Ich zog ein Nachthemd über, schlüpfte unter die Decke und drehte Alex’ Bettseite den Rücken zu. Nach einiger Zeit huschte er leise ins Zimmer und begann sich auszuziehen. Er kam ins Bett, zog mich in seine Arme und schaute aus dem Fenster auf dieselben Sterne, die ich zu Mustern zu ordnen versuchte.
»Ich bin damals nicht zur Beerdigung meines Vaters gegangen«, sagte Alex so laut, daß ich unwillkürlich zusammenzuckte. Gut, so spät war niemand außer uns im Haus, aber bei manchen Sachen sollte man lieber flüstern. »Meine maman rief mich an und
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