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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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erklärte mir, daß er ein armseliger Scheißkerl gewesen sei, daß es aber christlich sei zu kommen.«
    Ich schloß die Augen und sah das Bild vor mir, mit dem man aus dem Film entlassen wird: das Bild eines Vaters, der seinen Sohn hoch in die Luft hebt. Ich stellte mir Alex am Krankenbett seines Vaters vor. Ich hörte die Kameras surren, während er eine zweite Chance bekam.
    »Weil ich ihn für den Teufel persönlich hielt, fand ich natürlich, daß christliche Nächstenliebe bei ihm nicht angebracht war. Ich habe noch nicht mal sein gottverdammtes Grab besucht.« Alex’ Hände wanderten über meine Rippen, über die Stellen, die er vor Stunden verletzt hatte. »Ich werde Regie führen und koproduzieren«, stellte er ruhig fest. »Diesmal soll alles nach meinem Willen gehen.«
    Jack Green saß neben mir, während um ein männliches Double seiner Größe Kameras und Scheinwerfer aufgebaut wurden. Er war ein Schauspielerveteran; er hatte schon alles gespielt, von Komödien mit Marilyn Monroe bis hin zu dem dramatischen Porträt eines Alkoholikers, für das er 1963 den Oscar bekommen hatte. Aber er konnte auch im Schlaf »The Battie Hymn of the Republic« pfeifen, elegant wie ein Las-Vegas-Croupier Karten mischen und den Rohrkolben, die im hohen Gras Iowas wuchsen, die Köpfe abschießen. Von Alex einmal abgesehen, war er mir auf dem Set der liebste.
    Er spielte den Vater, was vor allem auf Alex’ Überredungskunst zurückzuführen war, da Jack seit 1975 keinen Film mehr gedreht hatte. Anfangs hatte ich es lustig gefunden, wie die Menschen auf dem Set herumhasteten, weil sie nicht wußten, ob sie ihren Kotau erst vor Jack, der Legende, oder vor Alex, dem Gott, machen sollten. Und niemand konnte voraussehen, ob sich Jack von Alex etwas sagen lassen würde. Aber nach den ersten Arbeitskopien war Jack aufgestanden und hatte sich zu Alex umgedreht. »Junge«, hatte er gesagt und ihm die Hand gereicht, »wenn Sie erst mal so alt sind wie ich, werden Sie vielleicht genauso gut sein.«
    Jetzt zog Jack eine Braue hoch und fragte mich, ob ich noch eine Karte wolle. Wir spielten Blackjack, und er war die Bank. »Ich versuch’s«, sagte ich und tippte auf das Buch, das wir als Nottischchen verwendeten.
    Jack deckte die Karo-Zehn auf und grinste. »Blackjack.« Er schüttelte anerkennend den Kopf. »Cassie, Sie haben mehr Glück als eine Nutte mit drei Titten.«
    Ich lachte und sprang von Alex’ Stuhl. »Müssen Sie sich nicht allmählich fertigmachen oder so?«
    Jack sah auf und ließ den Blick über die hektisch herumeilenden Menschen wandern. »Na ja«, meinte er, »so langsam könnte ich mal versuchen, mein Geld zu verdienen.« Er lächelte und warf mir sein Drehbuch in den Schoß. Soviel ich wußte, hatte er es, seit er vor zehn Wochen am Set aufgetaucht war, kein einziges Mal aufgeschlagen, und trotzdem war er noch nie steckengeblieben. Er ging auf Alex zu, der dem Chefkameramann gestikulierend Anweisungen gab.
    Ich hatte mich den ganzen Tag noch nicht mit Alex unterhalten, was aber nicht weiter ungewöhnlich war. Noch nie hatte ich Alex so beschäftigt gesehen wie während der Dreharbeiten zu Die Geschichte seines Lebens in Iowa. Ständig standen Leute aus der Crew Schlange, um ihn nach seiner Meinung über dieses oder jenes zu fragen; Reporter bemühten sich um Vorabinterviews; er mußte sich mit Geldgebern treffen, um die Finanzierung zu sichern. Irgendwie ließ der Streß Alex aufleben. Seine Karriere stand auf dem Spiel: nicht genug, daß er sich an einem Film versuchte, in dem er nicht den traditionellen romantischen Hauptdarsteller spielte, er führte auch zum ersten Mal Regie. Aber dieser geballte Druck schien ihn von der Tatsache abzulenken, daß der Stoff, den er da verfilmte, und die Emotionen, die er vor der Kamera zum Leben erweckte, tief aus seinem Innersten kamen.
    Alex hatte darauf bestanden, die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn ganz zum Schluß zu drehen. Er hatte zwei Tage für die Dreharbeiten angesetzt - heute war der erste –, weil er die Szene in der Dämmerung spielen lassen wollte, wenn die Hügel und Maisfelder lila unter der Sonne lagen. Ich beobachtete, wie eine Maskenbildnerin zu Jack trat, um seinen Rücken mit künstlichem Schweiß zu betupfen und einen wie Dreck aussehenden, braunen Ring an seinem Hals aufzutragen. Er schaute kurz auf, während er so bearbeitet wurde, und zwinkerte mir zu.
    »Zum Glück ist er vierzig Jahre älter als du«, bemerkte Alex hinter mir. »Sonst

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