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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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verstecken, sobald wir ankamen, so daß ich das Gefühl hatte, nur Alex und ich hätten Zugang zu diesem kleinen Paradies.
    Während unserer ersten Besuche auf der Ranch hatte Alex mir das Reiten beigebracht. Er selbst hatte es vor Jahren für Desperado gelernt. Ich war eine gute Schülerin, und es machte mir Spaß.
    Alex hatte mir eine Stute namens Annie gekauft, die zehn Jahre alt war, aber sich aufführte wie ein übermütiges Fohlen. Wenn ich aufsaß, versuchte sie mich meist abzuwerfen. Trotzdem, verglichen mit den Pferden, die Alex selbst bevorzugte, war sie lammfromm. Jedesmal schien ein neues, erst halb zugerittenes auf ihn zu warten. Für Alex bestand der halbe Reiz allein darin, sich im Sattel zu halten.
    »Um die Wette«, sagte ich, während ich zusah, wie Alex Kongos Zügel anzog, um ihn im Schritt zu halten. Ich lenkte Annie in einem engen Kreis um ihn herum. »Oder hast du Angst, du könntest die Kontrolle über ihn verlieren?«
    Ich provozierte Alex; ich wußte, wenn er sich zutraute, in den Sattel zu steigen, würde er das Pferd auch seinem Willen beugen können. Aber Kongo war ein riesiger Hengst, fast zwei Meter groß und schwarz wie die Nacht, der nicht die geringste Neigung zeigte, Alex’ Wünschen in irgendeiner Weise Folge zu leisten. »Ich glaube, du solltest mir wenigstens einen Vorsprung geben«, sagte Alex grinsend, und als habe Kongo ihn verstanden, trottete er in die entgegengesetzte Richtung davon.
    »Nie im Leben«, rief ich, bohrte die Hacken in Annies Flanken und flog durch das Tor hindurch auf das Tal zu, wo das Flüßchen drei scharfe Kehren machte, bevor es in einem Hain silbriger Espen verschwand, deren Blätter im Wind klangen wie die Schellen eines Tamburins.
    Alex erreichte den Hain mit einem Vorsprung von vier Längen, bremste den Hengst zu einem langsamen Trab ab und ließ ihn im Kreis laufen, bis er sich abgekühlt hatte. Dann schwang er sich von Kongos Rücken, band ihn an einem niedrigen Ast fest und half mir beim Absteigen. Er ließ mich langsam an seinem Körper heruntergleiten, und ich nutzte die Gelegenheit, um die Arme um seinen Hals zu werfen und ihn zu küssen. »Was ich besonders an dir mag«, murmelte er lächelnd, »ist, daß du keine schlechte Verliererin bist.«
    Wir ließen die Pferde grasen und setzten uns ans Ufer, wo wir die nackten Füße im eiskalten Wasser baumeln ließen. Dann legte ich mich zurück und ließ meinen Kopf in Alex’ Schoß sinken.
    Ich wachte auf, als mein Schädel auf die Steine am Ufer schlug. Alex war auf Kongos Rücken gesprungen. »Annie hat sich gerade losgerissen«, rief er mir zu. »Ich reite ihr nach.«
    Mir war klar, daß Alex Annie einholen würde. Ich überlegte, wie sie sich wohl losgerissen hatte. Möglicherweise hatte sie ihre Zügel durchgekaut; bei ihrem Temperament war das durchaus vorstellbar. Aber es war genausogut möglich, daß ich sie einfach zu schlampig angebunden hatte und daß ich für diese Nachlässigkeit teuer bezahlen mußte, wenn Alex zurückkam.
    Als ich Alex endlich auf mich zugaloppieren sah, stand ich schon reglos am Ufer. Keuchend und ohne mich anzusehen, hielt er die Pferde einen Meter vor mir an. Dann stieg er ab und knotete Annies und Kongos Zügel an den Stamm zweier Bäume.
    Während dieses Vorspiels hatte er kein einziges Wort gesagt, und mir war klar, daß er sich Zeit ließ, bevor er sich mit mir befaßte. Er drehte sich um, aber ich vermochte seine Miene nicht zu deuten. Als er einen Schritt auf mich zu machte, wich ich instinktiv zurück.
    Alex’ Augen wurden groß. Dann streckte er mir die Hand entgegen, wie man sie einem Hund hinhält, der einen nicht gut kennt. Er wartete, bis ich meine Hand in seine gelegt hatte, dann riß er mich in seine Arme. »Himmel«, flüsterte er, während er mir das Haar glattstrich. »Du zitterst ja.« Er streichelte mich am Hals. »Selbst wenn ich sie nicht eingeholt hätte, wäre sie bestimmt zum Stall zurückgelaufen. Du hättest keine Angst zu haben brauchen.« Aber das Zittern wollte einfach nicht aufhören, deshalb schob er mich nach einer kurzen Weile sanft von sich weg und hielt mich nur noch an den Armen fest. »Mein Gott«, erkannte er langsam. »Du hast Angst vor mir.«
    Ich sah auf und schüttelte den Kopf, aber das Zittern strafte meine Antwort Lügen. Alex setzte sich auf den Boden und senkte den Kopf. Ich setzte mich neben ihn; ich fühlte mich elend, weil ich einen vollkommenen Nachmittag ruiniert hatte. Mir war klar, daß es meine Aufgabe war,

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