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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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auf Will herab. Sie landete quer über ihm, eine Dame von mindestens fünfzig Jahren mit Tränen der Scham in den Augen und einem zu tief ausgeschnittenen Kleid.
    »Madam«, fragte Will höflich. »Haben Sie sich was getan?«
    Die Frau ließ ein leises Schniefen hören, dann erst schien sie ihn wahrzunehmen. Sie lächelte verführerisch, wobei sich die Haut ihrer gelifteten Wangen bis zum Zerreißen spannte. »Hallo«, hauchte sie und ließ ihren Schenkel zwischen seine Beine gleiten.
    Und da wußte Will, daß er heimkehren würde.
    Drei - zwei - eins - weiß. Der Film lief aus und ließ Alex mit der leeren Leinwand in seinem privaten Vorführraum zurück. Er drückte einen Knopf auf der Fernbedienung und seufzte, als der Raum in heilsamem Dunkel versank. So war es besser; leichter.
    Er nahm die Flasche J &C B, die neben ihm stand, und drehte sie um, nur um festzustellen, daß sie leer war. Er hatte sie irgendwann während des dritten Aktes von Macbeth geleert, als ihm klar geworden war, daß die Kritiker recht hatten: der Film war grauenhaft. Sie würden nicht einmal Videokopien für den Englischunterricht an High-Schools verschenken können.
    Die Produktion war seit einigen Wochen abgeschlossen, dies war die erste komplette Fassung des Films. Und er konnte die Schwierigkeiten nicht auf den Rohschnitt schieben; er wußte, daß er die Sache schon vor Monaten hätte aufgeben sollen, um den Schaden in Grenzen zu halten. Aber in Hollywood war das gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, versagt zu haben, und kein Produzent mit Ambitionen konnte sich dieses Stigma leisten. Also hatte er sich weiter durch den Film gequält und gebetet, daß das Gesamtwerk besser würde, als die einzelnen Szenen vermuten ließen.
    Anscheinend wurden seine Gebete zur Zeit nicht erhört.
    Er rieb sich die in letzter Zeit ständig brennenden Augen. »Jeder hat mal einen Flop«, sagte er laut, wie um die Worte auszuprobieren. Bei ihm war sowieso einer überfällig. Man konnte nicht zehn Jahre lang mit dem Erfolg verheiratet sein, ohne auch nur eine Affäre mit dem Mißerfolg zu haben, Natürlich fiel bei anderen Leuten das Privatleben nicht gleichzeitig mit der Karriere in Scherben.
    Er schloß die Augen und ließ den Kopf gegen die Sessellehne sinken. Er war wieder acht Jahre alt, saß draußen vor Deveraux und wartete darauf, daß sein Vater mit dem Kartenspielen aufhörte. Es war drückend heiß, aber das war nichts Neues. Alle Fenster des Lokals standen offen, und er hörte das Klirren, mit dem die Biergläser wieder auf die einfachen Holztische gesetzt wurden; den Klaps und das Kichern der rothaarigen Bedienung, wenn Beau ihr eins hinten draufgab; das Klappern der Krabbenpanzer, während die Gäste ihre Teller leerten. Ein beschwingter Zydeco wehte aus den Lautsprechern im Haus durch das Spanische Moos, das über Alex’ Kopf hing.
    »Du hast nichts mehr zum Einsetzen außer deinem Kleinen da draußen«, hörte Alex, »und der ist nicht mal soviel wert wie die Scheiße an deinen Schuhen.«
    Er stand auf, watete barfuß durch den glitschigen Schlamm und kletterte auf den Baum, der dem Lokal am nächsten stand, bis er ausgestreckt auf einem tiefen Ast lag. Sein Vater hatte bestimmt schon wieder verloren, vielleicht sogar mehr, als sie für die Langusten bekommen hatten. »Schieß mir was vor, Lucien«, sagte sein Vater. »Du kriegst es zurück.«
    Er sah, wie Beau, der hinter seinem Vater stand, Lucien ansah und leicht den Kopf schüttelte, aber der große Kahle verschränkte nur die Arme vor der Brust und lachte. »Du wirst wieder verlieren, eher, aber niemand soll sagen, daß ich ein Spielverderber bin.« Er zog ein Geldbündel aus der Brusttasche und streckte Alex’ Vater eine Handvoll Scheine hin. Doch bevor Andrew Riveaux das Geld nehmen konnte, zog es Lucien wieder zurück. »Einen Augenblick«, sagte er. »Ich finde, wenn ich dich schon wie eine Nutte bezahle, kannst du dich auch wie eine benehmen.«
    Das ganze Lokal lachte, als Andrew Riveaux aufstand und hinternwackelnd um den Kartentisch tänzelte. Er hauchte Lucien Küßchen zu, zog einen Schmollmund und führte sich auf wie ein Straßenflittchen, bis Lucien sich seiner erbarmte und ihm das Geld gab. Alex ließ seinen Vater keine Sekunde aus den Augen. Er spürte brennende Magensäure in der Kehle und konnte trotzdem nicht wegschauen.
    Alex fuhr hoch. Er stand auf, zog die Vorhänge weit zurück, schaltete jedes Licht in dem kleinen Vorführraum ein. Dann nahm er das drahtlose

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