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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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veranstaltet, deren Namen er vergessen hatte, und diente einem hehren Ziel - der Unterstützung einer Ranch für behinderte Kinder in Südkalifornien. Trotzdem konnte Will nicht glauben, daß er so sein Geld verdienen mußte.
    Höhepunkt des Abends war der Auftritt von sieben welken Matronen der gehobenen Gesellschaft in perlenverzierten Abendkleidern und mit anderthalb Meter hohen Blumengebinden auf dem Kopf, die von mehreren, an der alljährlichen Blumenparade beteiligten Floristen zusammengezaubert worden waren. Die Frauen schwankten über den Laufsteg, lächelten trotz der Stahlrahmen, die ihre Hälse stützten, und machten wahrscheinlich einen Riesenreibach für die gute Sache.
    Will und Ramon sollten dafür sorgen, daß wenigstens der Anschein von Ordnung gewahrt wurde.
    Noch mehr schockierte ihn allerdings die Tatsache, daß man sie dazu überhaupt brauchte. Bereits drei Stunden bevor der Rummel angefangen hatte, hatte ein dürrer Knirps, auf dessen Namensschild »Maurice« stand, einen anderen Floristen beschuldigt, seine Paradiesvogelorchideen gestohlen zu haben. Will hatte Maurice mit roher Gewalt vom Rücken des Diebes zerren müssen, nachdem er bereits eine einstmals weiße Lilienkette in den Boden gestampft hatte.
    »Auf geht’s«, sagte Ramon und wälzte sich aus dem Fahrersitz.
    Will zog seine Mütze tief ins Gesicht und ging auf das Beverly Wilshire Hotel zu. Dies war nicht irgendein Wachdienstauftrag, beruhigte er sich. Er würde es bald zum Detective bringen, tröstete er sich.
    Ramon baute sich auf der einen Seite des Laufstegs auf, Will auf der anderen. Das Licht erlosch, dichte, rhythmische Musik ertönte, dann erschien das erste Model.
    Ihr Kopfschmuck bestand aus Nelken, die zu der Jahreszahl 1993 angeordnet waren. Man merkte, wie schwer ihr allein das Gehen fiel. Hinter ihr, auf einer riesigen Leinwand, erschienen glatzköpfige, zahnlückig grinsende Kinder auf Reitpferden, kränkliche Jugendliche in künstlichen Lungen.
    Eine Frau, die Conferenciere, kam zu Will geschlendert und überreichte ihm eine Einkaufstüte voller winziger, verpackter Geschenke. »Ihre Zuckertüte«, zwitscherte sie. Sie strahlte zum Laufsteg hoch. »Ich hoffe immer noch, daß ich nächstes Jahr ausgewählt werde. Als Mannequin, wissen Sie?« Ein zweites Model erschien, »Hooray for Hollywood« singend, auf dem Laufsteg. Die Veilchen, die ihr aus den Haaren wuchsen, waren zu einer Filmkamera modelliert, und über ihre Schulter ergoß sich eine Filmrolle aus Efeu.
    Will mußte an Cassie denken. Er fragte sich, ob sie mit Alex zu solchen Veranstaltungen gegangen war; ob sie sich so fehl am Platz gefühlt hatte wie er. Unter dem Dröhnen der Musik packte er schweigend drei der kleinen Geschenke aus. Eine Flasche Designerparfüm, eine Pilotensonnenbrille, eßbares Massageöl.
    Auf der anderen Seite des Laufstegs klatschte Ramon im Takt. Will musterte die Gesichter, die über den Satinkleidern und den engen Smokingkragen nickten - Gesichter, die gezogen und geglättet, modelliert und fixiert, präpariert und poliert und koloriert waren. Sie waren wie kunstvoll verpackte Geschenke, bei denen man nirgendwo Klebeband sah; und sie versuchten krampfhaft, natürlich auszusehen.
    Kurz gesagt, sie sahen aus wie alle Welt in L. A.
    Und in einem Augenblick absoluter Klarheit, wie man ihn nur ein- oder zweimal im Leben erfährt, begriff Will, daß er hier nichts zu suchen hatte. Er mußte an seine Zeit bei der Stammespolizei denken, wo er prügelnde Ehemänner verhaftet, Teenagern die Bierflaschen weggenommen und sich immer wieder gesagt hatte, daß das nicht alles im Leben sein konnte. Und vielleicht war das auch nicht alles - aber hier würde er es genausowenig finden wie in South Dakota.
    Er war so damit beschäftigt, das Publikum zu betrachten, daß er gar nicht begriff, was ihn da traf. Das vierte Model hatte sich mit ihrem Absatz in einem Spalt im Laufsteg verfangen und unabsichtlich den Kopf herumgeworfen, wodurch sich die Nadeln und der Leim lösten, mit denen ein Blumenbrunnen auf ihrem Kopf befestigt war. Will wurde unter einem Berg von Teerosen und Tigerlilien, riesigen Treibhaus-Mohnblumen und Stephanotis begraben. Er rutschte auf den glänzenden Blütenblättern aus und fiel auf den Rücken.
    Ein paar Ärzte von der südkalifornischen Ranch sprangen von ihrem Tisch auf, um sich um ihn zu kümmern, aber bevor sie ihn erreicht hatten, purzelte das Mannequin, das sich betreten von dem hohen Laufsteg heruntergebeugt hatte,

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