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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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seine nackten Schultern und auf seinen Rücken, und er schrie die Hirschkuh an, endlich weiterzugehen. Er wußte, daß gleich ein Blitz niedergehen und genau dort einschlagen wiyde, wo sie stand, aber sie blieb ganz ruhig stehen, als würde sie nicht einmal merken, daß es regnet. Sie war das schönste Wesen, das Will je gesehen hatte, mit hohem, geschwungenem Rücken und Löwenzahnketten um die zierlichen Fesseln. Ein Weg öffnete sich vor ihm; er sah, daß er entweder zu der Hirschkuh oder nach rechts gehen konnte, wo es nicht regnete. Es war so leicht, sich umzudrehen und wegzugehen, und er wollte nicht im Regen ertrinken.
    Er ging auf die Hirschkuh zu. Er schrie, schob sie mit den Fäusten an, und schließlich sprang sie über den anderen Weg davon in die Sonne. Will wollte ihr folgen, aber in diesem Augenblick schlug der Blitz, den er hatte kommen sehen, in seinen Rücken, verbrannte ihn bis ins Mark und brach ihm alle Knochen. Er fiel zu Boden, erstaunt, daß es so viel Schmerz in der Welt geben konnte, und begriff, daß er sie gerettet hatte.
    Und dann hörte der Regen auf, er hob den Kopf - das einzige, was er noch bewegen konnte - und sah die Hirschkuh über sich stehen und die Nase in seine Handfläche stubsen. Dann verschwand die Hirschkuh, und Cassie war da, um ihn zu berühren und zu heilen; und dank ihm in Sicherheit.
    Will sah hoch, als die Tür aufging. Joseph Stands In Sun zog seine Jacke aus und setzte sich auf die Ecke einer Gartenbank. Er wartete, daß Will etwas sagte.
    Will schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen. Es würde bedeuten, daß er nach Pine Ridge zurückkehrte - nicht nur körperlich, sondern mit seiner ton, der Seele. Aber andererseits hatte er genausowenig nach Kalifornien gepaßt wie zu den Sioux, das war ihm inzwischen klar; vielleicht war es sein Los, sein Leben lang zwischen den beiden Welten zu pendeln, bis er irgendwo dazwischen eine Oase fand, wie seine Eltern sie sich geschaffen hatten.
    Er reichte Joseph die gewundene Flöte. Es gab nur eine einzige Melodie, die Cassie hören würde - weil sie selbst sie tausendmal gespielt hatte. Mit glühendem Blick beugte Will sich vor und fragte den Medizinmann, wie er sie von ihrem Schmerz befreien könne.

23
     
    Marjorie Two Fists blickte von den Kindermokassins auf, die sie gerade bestickte, und sah, wie Cassie schon wieder einen Fehler machte. »Hiyá«, meinte sie und deutete mit dem Finger auf die Stelle. »Wenn du dich nicht konzentrierst, kannst du sie wegwerfen.«
    Cassie stach die Nadel durch das Leder. Sie wußte, daß sie sich ausgesprochen tolpatschig anstellte, wohingegen die alten Frauen flink und geschickt arbeiteten, trotz ihrer schlechten Augen und der rheumatischen Finger. »Es tut mir leid«, murmelte sie.
    Rosalynn White Star blickte über den Rand ihrer Lesebrille. »Ihr tut immer alles leid«, meinte sie.
    Dorotheas Kopf fuhr hoch. »Lieber sich entschuldigen als immer nur rummeckern«, sagte sie spitz zu Rosalynn. »Ihr gehen andere Dinge im Kopf rum.«
    Cassie hörte Dorotheas Bemerkung, aber sie achtete nicht weiter darauf. Der Mond der reifenden Kirschen neigte sich dem Ende zu, jener Monat, den sie Juli nannte; in wenigen Wochen würde ihr Baby kommen. Ihr Körper schien zu schwer, um ihn noch zu tragen, doch das war nichts verglichen damit, wie schwer ihre Gedanken wogen. Bei jedem Tritt oder Stoß des Fremden in ihrem Bauch mußte Cassie an Alex denken und daran, was er immer noch nicht wußte.
    Er fehlte ihr immer noch. In ihren Träumen stellte sie sich vor, wie Alex ihr vergab und sie an sich zog. Sie entdeckte sein Gesicht in einer Warteschlange in der Bank in Rapid City; in einer Lichtspiegelung über den Black Hills; in einer Regenpfütze. Sie versuchte, sich auszumalen, was er sagen würde, wenn sie ihm seinen Sohn oder seine Tochter zeigte, aber das bedeutete, daß sie wieder in Los Angeles wäre, nicht mehr in diesem weiten Land, und das konnte sich Cassie beim besten Willen nicht vorstellen.
    Inzwischen fühlte sie sich hier wohler als zu Hause. Sie konnte nicht abstreiten, daß sie Alex immer noch liebte, immer lieben würde, aber sie konnte genausowenig vergessen, daß sie während der fünf Monate, die sie auf Pine Ridge verbracht hatte, frei gewesen war. Sie hatte ihre Nachmittage nicht damit verbringen müssen, Alex’ Launen zu erahnen und sich entsprechend zu verhalten. Sie war nicht mitten in der Nacht aufgewacht, in panischer Angst, wieder etwas falsch gemacht zu haben. Niemand

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