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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hatte sie geschlagen, verletzt, getreten.
    Einmal, im Ort Pine Ridge, hatte sie gesehen, wie ein Halbwüchsiger einen streunenden Hund trat, der ihm eine Schachtel Zigaretten aus der hinteren Hosentasche geklaut hatte. Der Hund war alt und halb blind, hatte wahrscheinlich die Räude, aber Cassie war losgelaufen und hatte sich zwischen den Jungen und die Promenadenmischung geworfen. Ein paar Passanten hatten auf sie gezeigt und über die schwangere Lady gelacht, die einen alten Köter in die Arme geschlossen hatte und aus Leibeskräften einen Jungen anbrüllte, während ihr dicker Bauch am Boden schleifte. »Witkowin«, hatten sie zu ihr gesagt. Verrücktes Weib.
    Aber Cassie hatte ganz instinktiv gehandelt. Für sie war das Reservat eine Art neutraler Boden, ein sicherer Zufluchtsort. Sie würde nicht zulassen, daß dieses Bild Schaden nahm.
    In letzter Zeit ließ sich Will kaum blicken - Cassie hatte das Gefühl, ihn noch weniger zu sehen, seit er nach Pine Ridge zurückgekommen war. Er verbrachte viel Zeit mit Joseph Stands In Sun, und er wollte Cassie nicht mehr verraten, als daß er endlich die Gebräuche seines Volkes kennenlernte.
    Cyrus und Dorothea und alle anderen bereiteten sich eifrig auf das wacipi, das große Powwow, vor, das Anfang August stattfinden sollte. Mit ein paar anderen Stammesältesten machte sich Cyrus auf die Suche nach der gegabelten Pappel, die beim Sonnentanz als Pfahl dienen sollte. Dorothea verbrachte ihre gesamte Freizeit damit, Brombeermarmelade und Enzianwurzelsud einzukochen. Beides wollte sie während der Festtage gegen die kunstvoll gemusterten Schals und grob gewebten Teppiche eintauschen, die andere gefertigt hatten. Nachdem sie einen großen Karton mit ihren Waren vollgepackt hatte, hatte sie Cassie erklärt, daß sie zu Marjorie Two Fists Hütte gehen wolle, um dort mit den anderen zu nähen und zu sticken; sie hatte Cassie gefragt, ob sie mitkommen wolle, um sich ein bißchen abzulenken.
    So saß Cassie nun schon den dritten Nachmittag bei den alten Frauen, ruinierte die Perlenstickerei auf Armbändern, Jacken und Mokassins und hatte immer deutlicher das Gefühl, hier fehl am Platz zu sein. Dorothea legte den Beutel beiseite, den sie gerade bestickte, und hob die Ecke von Rosalynns Quilt hoch. »Das da wird sich gut verkaufen«, fand sie. »Der Markt ist das beste am ganzen Wochenende.«
    »Ach, ich weiß nicht«, wandte Marjorie ein. »Ich bin zwar schon zu alt zum Tanzen, aber trotzdem gefallen mir die jungen Leute in ihren Kostümen. Ich mag die Trommeln. So laut.«
    Dorothea lachte. »Wenn sich Cassie nah genug hinstellt, kommt das Baby vielleicht früher.«
    Das wollte Cassie auf gar keinen Fall. Sie wußte nichts über Säuglinge; sie hatte sich noch keine Gedanken über alltägliche Dinge wie Wickeln und Aufstoßen und Stillen gemacht. Für sie war das Baby eher ein Mittel zum Zweck, aber dieser Zweck hatte etwas an sich – etwas Endgültiges -, das sie eigentlich nicht sehen wollte.
    Die Tür flog auf, und vor ihnen stand, vom leichten Sommerregen umrahmt, Will. Ohne zu merken, was sie da tat, stand Cassie auf und ließ den Mokassin, an dem sie gearbeitet hatte, zu Boden fallen. Perlen lösten sich und rollten in die Spalten zwischen den glatten Holzdielen. »Huch«, hauchte sie und bückte sich, so gut sie konnte, um die Perlen wieder aufzulesen.
    »Ich weiß, ich weiß«, murmelte Marjorie. »Es tut dir leid.«
    »Einen wunderschönen Nachmittag, meine Damen«, sagte Will grinsend. »Wie geht’s voran?«
    Dorothea zuckte mit den Achseln. »Wenn es fertig ist, ist es fertig.«
    Will lächelte; damit hatte sie seine Lebensphilosophie auf den Punkt gebracht. Er sah Cassie an. »Ich dachte, du möchtest vielleicht ein bißchen Spazierengehen oder so.«
    Marjorie stand auf und nahm Cassie die Perlen aus der Hand. »Eine gute Idee«, bestätigte sie. »Nimm sie mit, bevor sie noch mehr kaputtmacht.«
    Dorothea sah auf ihren Enkel, dann auf Cassie, dann wieder auf Will. »Sie hat eine ihrer Launen«, warnte Dorothea. »Vielleicht kannst du sie ihr austreiben.«
    Genau das hatte Will vor. Er fand, Cassie sollte eigentlich in Hochstimmung sein; schließlich würde sie bald gut dreißig Pfund leichter sein. Aber statt dessen schien sie ihm von Minute zu Minute mehr zu entgleiten. Fast, wie Will sich eingestand, als würde sie sich schon verabschieden.
    Er hatte eine Chance, und er würde sie nutzen. Am Tag des großen Powwows würde er es ihr begreiflich machen. Aber bis

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