Auf den zweiten Blick
dahin konnte der Versuch, sie ein bißchen aufzuheitern, nichts schaden. »Was meinst du dazu?« drängte er.
Cassie schielte über seine Schulter durch die offene Tür. »Es regnet«, wandte sie ein.
Sie verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß. Seit Tagen sehnte sie sich danach, Will zu sehen; sie war unruhig; eigentlich sollte sie die Gelegenheit beim Schopf packen, diese trübe kleine Teeparty zu verlassen - wieso zierte sie sich so? »Wir werden naß«, meinte sie. »Wir können nicht Spazierengehen.«
Wills Augen begannen zu leuchten. »Also gut«, sagte er. »Dann machen wir was anderes.« Plötzlich stand er mitten unter den Frauen und versuchte ungeschickt, seine Arme um Cassies unförmigen Leib zu legen. Er begann zu summen und Cassie in einem unrhythmischen Twostep herumzuwirbeln. Mokassins und Strickbeutel knirschten unter den Absätzen seiner Cowboystiefel. Begeistert begann Rosalynn in einem hohen, lieblichen Sopran zu singen.
Cassie wurde knallrot. Sie hatte kein Gleichgewichtsgefühl mehr und mußte sich an Wills Schultern festkrallen, um nicht umzufallen. Sie bekam kaum mit, wie Marjorie grinsend aufstand und ihren Stuhl aus dem Weg räumte, damit Will zur offenen Tür hinaustanzen konnte.
Dorothea, Marjorie und Rosalynn drängten sich neugierig an den schmutzigen Fenstern, schauten dem tanzenden Paar zu, klatschten in die Hände und erinnerten sich an längst vergangene Zeiten, als sie unter einer Decke mit ihrem Liebsten geflüstert hatten oder das Bündel geschüttelt hatten, in dem ihre Zukunft enthalten war, um zu erraten, was darin steckte, oder vielleicht sogar im Regen getanzt hatten. Cassie lauschte dem vollen, verwobenen Lachen der alten Frauen, einer vollkommen anderen Art von Musik, die so frisch wirkte wie das Kichern junger, umworbener Mädchen.
Sie blickte in Wills Augen, als sie über die Schwelle in den Regen hinaustanzten. Sie platschte durch Pfützen, spürte, wie sie ihm auf die Füße trat, spürte, wie das Baby langsam in ihr herumrollte, spürte den kühlen Regen auf den Wangen. Er wusch alles weg. Und einen bezaubernden, glücklichen Moment glaubte Cassie wirklich, daß es ewig so bleiben könnte.
Auf halbem Wege zwischen Marjorie Two Fists’ Haus und ihrem eigenen setzte sich Dorothea nieder, um darüber nachzudenken, wie sich die Geschichte wiederholte. Nicht daß sie müde gewesen oder daß die Tasche mit den Stickarbeiten ihr zu schwer geworden wäre. Aber ganz plötzlich war der Geist ihrer verstorbenen Schwiegertochter Anne neben ihr gegangen, und der eisige Atem an Dorotheas Hals hatte es ihr unmöglich gemacht, weiterzugehen.
Zachary, Dorotheas einziges Kind, hatte sich vor inzwischen sechsunddreißig Jahren in die weiße Lehrerin verliebt, und obwohl sie ihrem Sohn nie hatte weh tun wollen, hatte Dorothea alles in ihrer Macht getan, um dieser Affäre ein Ende zu bereiten. Sie hatte die entsprechenden Wurzeln und getrockneten Blumen unter Zacharys Matratze versteckt; sie hatte zu den Geistern gebetet; sie hatte sogar Joseph Stands In Sun um Rat gefragt. Aber es sollte so sein. Damals, als Anne Pine Ridge verlassen hatte, um Distanz zwischen sich und Zachary zu schaffen, und Zachary ein Pferd gesattelt hatte und ihr meilenweit nachgeritten war, hatte Dorothea nur wenige Meter von ihrem Sohn entfernt gestanden und alles kopfschüttelnd mit angesehen.
Dorothea hätte das zu jener Zeit nie zugegeben, aber sie war wie besessen von Anne. Als feststand, daß Zachary sie heiraten würde, was auch passieren mochte, erklärte Dorothea ihm, daß er mit ihr als Hochzeitsgast nicht zu rechnen brauche. Aber sie trachtete danach, die Frau genauer zu beobachten, die ihre Tochter werden sollte. Sie stand draußen vor dem Klassenzimmer, in dem Anne unterrichtete, und machte sich mit den Höhen und Tiefen ihrer Stimme vertraut. Sie folgte ihr in den Laden und registrierte genau, was Anne einkaufte: Talkumpuder, Ingwerbonbons, blauen Lidschatten. Sie ging auf die Ämter und lernte ihre Zeugnisse, ihre Blutgruppe und ihre Sozialversicherungsnummer auswendig.
Drei Tage vor der Hochzeit war Anne unter einer Pappel vor Dorotheas Haus eingeschlafen, während sie auf Zachary wartete. Dorothea ging leise neben ihr in die Hocke und berührte die unglaublich durchsichtige Haut ihrer Wange. Fast zehn Minuten lang kauerte Dorothea wie hypnotisiert neben Anne und prägte sich das Netz blasser Adern, das die weiße Haut an ihrem Hals überzog, in ihr Gedächtnis ein.
»Was tust du
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