Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
nickte. »Die Uni gibt ihr frei?«
    Uni? Cassie kämpfte sich aus Alex’ Griff und rutschte von seinem Schoß. »Was hat die Uni damit zu tun?«
    Herb lächelte nachsichtig. »Wahrscheinlich ist Alex noch gar nicht dazu gekommen, dir das zu erzählen. Du lehrst an der University of California, Los Angeles.«
    »Ich dachte, ich sei Anthropologin.«
    »Das bist du auch«, bestätigte Alex. »Du lehrst dort Anthropologie.« Er grinste sie an. »Warte mal, ob ich deine Veranstaltungen dieses Semesters zusammenkriege… Du leitest die praktische Ausbildung bei den Archäologen, hältst ein Seminar über die Australopithecinen und ein Tutorium für Professor Goldens Kurs über Biologie, Gesellschaft und Kultur.«
    Wütend fuhr Cassie herum. Ihr Zorn fraß sich durch die unsichtbare Mauer zwischen ihr und Alex und ließ sie ihre Rolle als stille Beobachterin abschütteln. Wie hatte er nur unterlassen können, das zu erwähnen? Sie hatte ihm von der Hand erzählt, auf die sie in der Bücherei gestoßen war, den ersten Hinweis auf ihre Identität. Und als er ihr auf dem Polizeirevier bestätigt hatte, daß sie Anthropologin war, hatte sie laut losgejubelt. Gerade jemand, dem seine Karriere so wichtig war wie Alex, hätte sie verstehen müssen. »Warum hast du mir das nicht früher erzählt? Ich muß dort anrufen. Vielleicht habe ich eine Vorlesung verpaßt. Vielleicht haben sie in der Zeitung über mich gelesen –«
    »Cassie«, fiel ihr Alex ins Wort. »Ganz ruhig. Ich habe Jennifer anrufen lassen. Sie hat ihnen gesagt, daß du in Ordnung bist und daß du dir ein paar Wochen frei nimmst, um dich zu erholen.«
    »Und wer ist Jennifer, verdammt noch mal?« tobte Cassie.
    »Meine Assistentin«, antwortete Alex. Seine tiefe, ruhige Stimme lief ihr wie Wasser über ihre Schultern und ihren Rücken. Er blieb vor ihr stehen, hielt sie an den Oberarmen fest und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Beruhige dich doch«, sagte er. »Ich will ja nur, daß du dich erholst.«
    »Mir geht es wunderbar«, brach es aus Cassie heraus. »Ganz wunderbar. Vielleicht kann ich mich nicht daran erinnern, wer ich bin, Alex, aber deshalb bin ich noch lange kein Krüppel. Wahrscheinlich würde ich mich an viel mehr erinnern, wenn du nicht so wild darauf wärst, alle Entscheidungen für mich zu treffen und -« Plötzlich verstummte sie. Alex’ Stimme war weich wie Regen gewesen, und seine Arme hatten ihr Trost spenden wollen, aber seine Finger bohrten sich in ihre Haut. Cassie senkte den Blick und entdeckte einen Fleck auf ihrem Hemd - einen Blutschmierer von seiner verletzten Hand.
    Er sah sie so eindringlich an, daß er nicht einmal merkte, wie weh er ihr tat. Cassie spürte, wie ihre Wangen brannten. Sie machte ihm Vorwürfe, obwohl sie höchstens die Hälfte der Fakten kannte. Sie hatte ihn angeschrieen, obwohl er nur versucht hatte, ihr zu helfen. Sie wandte sich von ihm ab, zutiefst beschämt, weil sie sich vor ihm - und seinem Agenten - wie eine Furie aufgeführt hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Natürlich würde sie nach Schottland mitfahren. Sie konnte noch ihr ganzes Leben an der Universität unterrichten.
    Alex strich ihr das Haar aus der Stirn. Er schien darauf zu warten, daß sie wieder zur Vernunft kam. »Es tut mir leid«, murmelte Cassie. »Es wäre mir einfach lieber gewesen, wenn du mir was davon gesagt hättest.« Sie löste sich von ihm, und wieder senkte sich der beklemmende Schatten zwischen sie. Verlegen lächelte sie in Herbs Richtung, dann ging sie hinaus auf den Patio, durch den man zum Strand kam.
    »Puh«, sagte Herb. Er stand auf und streckte sich. »Ich glaube, so habe ich Cassie noch nie erlebt.«
    Alex schaute seiner Frau nach, die über den hellen Sand spazierte. Der Wind verwischte ihre Spuren sofort, nachdem sie entstanden waren. Er beobachtete, wie sie einen Stein auflas und ihn mit aller Kraft wegschleuderte, als wolle sie die Sonne zerschmettern. »Nein«, sagte er ruhig. »Ich auch nicht.«
    Es war Sommer 1975, und sie und Connor lagen auf dem Rücken auf dem verankerten Badefloß, rieben die Zehen an dem rauhen Holz und wetteten, wer am längsten in die sengende Sonne starren konnte. »Du mogelst«, beschwerte sie sich. »Du blinzelst, wenn du glaubst, ich schaue nicht hin.«
    »Tu ich nicht«, widersprach Connor entrüstet. »Das sagst du bloß, weil du anders nicht gewinnst.«
    Sie war zwölf, und er war ihr bester Freund, und es war einer jener absolut perfekten Tage am Moosehead Lake, einer

Weitere Kostenlose Bücher