Auf den zweiten Blick
jener Tage, die so langsam vergingen, daß man glaubte, man sei in einem Foto gefangen, bis sie auf einmal, zack, viel zu schnell vorbei waren. »O je«, sagte sie. »Ich bin total blind.«
»Ich auch«, gab Connor zu. »Alles ist schwarz.«
»Unentschieden?«
»Unentschieden.« Cassie setzte sich auf und tastete sich über ihre und Connors Angelrute bis zu seinem knochigen Handgelenk vor. Sie zog, bis sie spürte, daß auch er sich aufgesetzt hatte.
Sie kannte Connor, seit sie denken konnte. Er lebte nebenan, und sein Vater arbeitete im Jagd- und Angelladen im Ort. Gemeinsam hatten sie noch warme Blätterteigteilchen aus der Bäckerei ihrer Eltern gemopst; sie gingen seit dem zweiten Schuljahr in dieselbe Klasse; sie hatten zusammen auf einer rostigen alten Sunfish segeln gelernt, die sie sich von ihrem als Zeitungsausträger verdienten Geld gekauft hatten. Sie hatten sich schon jetzt die Ehe geschworen, weil sie beide der Meinung waren, daß mit Ausnahme des jeweils anderen das andere Geschlecht ein erbärmlicher Haufen sei; sie redeten ständig davon, nach Kanada zu fliehen, bloß um auszuprobieren, ob sie es schaffen würden. Ihre Eltern sagten, sie seien wie Zwillinge, unzertrennlich. Sie mußte dabei immer an das Bild im Biologiebuch denken, das mit dem Einsiedlerkrebs und der Seeanemone auf seinem Rücken. Die Seeanemone fand mehr Nahrung, wenn der Krebs sie herumtrug; und den Krebs schützten und tarnten die giftigen Tentakel der Seeanemone. Allein hätten es beide schwer. Gemeinsam hatten sie viel bessere Überlebenschancen.
Connor sprang auf. »Sollen wir angeln?«
»Schon wieder?« fragte Cassie. »Lieber nicht.«
»Sollen wir um die Wette schwimmen?« Er deutete auf den sichelförmigen Strand.
»Und was machen wir mit unseren Angeln?«
Connor ging in die Hocke. »Ich könnte dir den Kopfsprung rückwärts beibringen.«
Cassies Augen leuchteten auf, wenn es ums Tauchen ging, war Connor nichts unmöglich. Ein- oder zweimal hatte er ihr etwas beibringen wollen, aber sie war keine besonders gute Schülerin. Trotzdem - ein Kopfsprung rückwärts.
»Also gut«, meinte sie. »Was soll ich machen?«
Connor stellte sich mit dem Rücken zum Wasser an die Floßkante, bis nur noch seine Zehen auf dem Holz waren. Dann ging er in die Knie und führte ihr einen perfekten Sprung vor: erst teilten seine Hände das Wasser, dann schnitt der Körper geschmeidig wie eine silberne Klinge durch die Oberfläche. Er tauchte neben dem Floß wieder auf und wischte sich den Rotz unter der Nase weg. »Jetzt du.«
Cassie holte tief Luft. Sie stellte sich an die Floßkante, ging in die Knie, hüpfte hoch und rutschte auf dem nassen Holz aus. Das einzige, woran sie sich lange danach erinnerte, war das gräßliche Geräusch, als ihr Kopf auf etwas Hartes, Unnachgiebiges prallte.
Connor war noch im Wasser, als sie das Bewußtsein verlor. Er schlang einen Arm über ihre Brust und schleppte sie zum Strand. Cassies Fersen zogen eine tiefe, nasse Furche, als er sie über den Sand schleifte.
Als sie die Augen aufschlug, stand ihr etwas in der Sonne, etwas Schwarzes, Großes. Cassie. Sie rieb sich den Hinterkopf.
Connor starrte sie an, als sei sie eben von den Toten wiederauferstanden und nicht nur ein, zwei Minuten ohnmächtig gewesen. »Ist alles okay?« fragte er. »Weißt du, wer ich bin?«
Cassie mußte einfach losprusten. Als könne sie Connor je vergessen. »Klar«, stöhnte sie. »Du bist meine andere Hälfte.«
Connor starrte sie nur an. Sein Gesicht war so bleich, daß sie wußte, sie hatte ihm einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Eine Zeitlang sagte keiner ein Wort. Connor fand als erster die Sprache wieder. »Komm mit«, sagte er. »Wir besorgen Eis für dich.«
Sie zogen die Fliegengittertür von Cassies Haus auf und legten auf ihrem Weg in die Küche eine Spur aus nassen Fußabdrücken und Sandkörnern. »Der Sprung wäre perfekt gewesen«, erklärte Cassie über die Schulter hinweg. »Das nächste Mal muß ich mich einfach –« Sie blieb so unvermittelt in der Tür stehen, daß Connor ihr in den Rücken lief. Unbewußt lehnte sie sich an ihn. Auf dem Küchenboden lag ihre Mutter, das Gesicht in einer Pfütze aus Erbrochenem.
Cassie kniff die Lippen zusammen, kniete mit einem nassen Tuch neben ihrer Mutter nieder und wischte ihr das Gesicht, den Mund und den Hemdkragen sauber. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Connor schweigend die Ginflasche hervorzog, die unter die Heizung gerollt war. Eigentlich sollte
Weitere Kostenlose Bücher