Auf den zweiten Blick
ihre Mutter in der Bäckerei sein, schließlich war es erst drei Uhr. Bestimmt hatten sich die beiden wieder gestritten. Und das hieß, daß sie nicht wußte, wann oder ob ihr Vater nach Hause kam.
»Ma?« flüsterte Cassie. »Ma, komm schon. Steh auf.« Sie legte sich den Arm ihrer Mutter über die Schulter und hievte die leblose Last im Feuerwehrgriff hoch. Connor stand in der Tür und schaute zu, wie sie ihre Mutter auf die Wohnzimmercouch legte und sie mit einer leichten Decke zudeckte.
»Cass?« Die Stimmer ihrer Mutter war nur ein Hauch, sanfter, als ihn Marilyn Monroe je zustande gebracht hätte. Blind tastete ihre Hand nach der ihrer Tochter. »Mein gutes Mädchen.«
Cassie stopfte die Hand ihrer Mutter unter die Decke, ging zurück in die Küche und überlegte, was sie für ein Abendessen zusammenkratzen konnte. Wenn das Essen auf dem Tisch stand, sobald – falls – ihr Vater nach Hause kam, dann würde er nicht wütend werden, und wenn er nicht wütend wurde, dann würde sich ihre Mutter vielleicht nicht wieder bis zur Besinnungslosigkeit betrinken. Es lag alles in ihrer Hand.
Connor stand in der Küche und füllte Eis in eine Plastiktüte. »Komm her«, befahl er. »Das letzte, was du brauchst, sind noch mehr Kopfschmerzen.«
Sie setzte sich auf einen Stuhl und ließ sich von Connor das Eispaket in den Nacken pressen. Nicht daß dieser Anblick neu für Connor gewesen wäre – er wußte alles über sie –, aber auch beim ersten Mal hatte er nichts gesagt und ihr einfach seine Hilfe angeboten. Er hatte sie nicht mit diesen riesigen, mitleidigen Mondaugen angeglotzt.
Eiswasser rann zwischen Cassies Schultern hinab, und trotz Connors Erste-Hilfe-Maßnahme meldeten sich langsam schädelspaltende Kopfschmerzen. Sie starrte aus dem Fenster auf das Badefloß, das so weit weg schien. Kaum zu glauben, daß sie noch vor wenigen Minuten dort gewesen war. Cassie seufzte. Es gab nur ein Problem mit absolut perfekten Sommertagen: man konnte darauf wetten, daß irgendwas total schieflief.
Sie wachte auf, weil ihr jemand kühle, leicht brennende Aloe auf die Waden rieb. »Du wirst dafür bezahlen müssen«, sagte Alex. »Du bist so rot, daß mir schon der bloße Anblick weh tut.«
Cassie strampelte ihr Bein frei und versuchte, sich auf den Bauch zu rollen. Es war ihr unangenehm, Alex’ Hände so vertraulich auf ihrer Haut zu spüren. Als sie das Knie anziehen wollte, verzog sie vor Schmerz das Gesicht. »Ich wollte nicht einschlafen.«
Alex warf einen Blick auf seine Uhr. »Und ich wollte dich nicht sechs Stunden lang schlafen lassen«, antwortete er. »Nachdem Herb weg war, bin ich einfach nicht mehr vom Telefon weggekommen.«
Cassie setzte sich auf und rutschte ein winziges Stück von Alex weg. Die Sonne legte ein leuchtendes Band über den Ozean. Eine ältere Frau kam mit zwei Weimaranern über den Strand geschlendert. »Alex!« rief sie winkend. »Cassie! Haben Sie sich wieder erholt?«
Alex lächelte sie an. »Es geht ihr gut, Ella«, brüllte er zurück. »Schönen Tag noch, Ella!«
»Ella?« murmelte Cassie. »Ella Whittaker?« Ihre Augen wurden groß. Sie versuchte, einen Blick auf die statuenhafte Frau zu werfen, die es vor fünfzig Jahren vom Pin-up-Girl zur Leinwandgöttin gebracht hatte. »Die Ella Whittaker aus -«
»Die Ella Whittaker von nebenan«, korrigierte Alex sie grinsend. »Mein Gott, hoffentlich findest du bald dein Gedächtnis wieder, sonst gehst du am Ende noch jeden in der Nachbarschaft um ein Autogramm an.«
Ein paar Minuten lang saß er schweigend neben ihr, und Cassie spürte, wie sich Ruhe über sie beide senkte. Sie wollte etwas zu Alex sagen, irgend etwas, aber sie wußte nicht, worüber sie normalerweise redeten.
Als sie ihr Gesicht wieder dem violetten Streifen am Horizont zuwandte, hüllte Alex’ Stimme sie ein, leicht wie Seide. »Ich wollte dir von der Uni erzählen. Mein Gott, ich wäre dir doch nicht mal begegnet, wenn du nicht dort arbeiten würdest, schon deshalb schulde ich ihnen eine Menge. Es war wirklich keine Absicht. Ich hab’ es einfach vergessen.« Er nahm ihre Hand und hob sie an seine Lippen. Seine Augen waren schlehengrau wie Rauch. »Vergibst du mir?«
Er spielt mir was vor. Der Gedanke drängte sich Cassie so unvermittelt auf, daß sie ihm ihre Hand entzog und sich zitternd abwandte. Woher weiß ich es, wenn er mir was vorspielt?
»Cassie?«
Sie sah ihn an, blinzelte, erwiderte seinen Blick und begann sich ihm langsam, Stück für Stück zu
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