Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
öffnen. Sie konnte nicht über die Sache mit der Uni nachdenken, nicht klären, wer recht hatte und wer nicht - nicht jetzt. Er hypnotisierte sie; sie begriff das, so wie sie begriff, daß sie für ihn geschaffen war und daß jeder Zweifel, den Alex in ihr auslöste, nur ihre eigenen Vorurteile widerspiegelte.
    Cassie begann das Unerwartete zu hören und zu spüren: schmeichelnde mexikanische Violinen; feuchten, nach Sumpf riechenden Wind; das Lied hundert schlagender Herzen. Sie wollte weglaufen, weil ein Instinkt ihr sagte, daß dies der Anfang vom Ende war, aber sie konnte sich ebensowenig bewegen, wie sie die Zeit zurückdrehen konnte. Die Welt um sie herum sank ins Dunkel, bis es keinen Weg mehr für sie gab als den zu Alex.
    »Vergibst du mir?« wiederholte er.
    Cassie hörte ihre eigene Stimme, hörte Worte, die nicht aus ihrem Kopf zu kommen schienen. »Natürlich«, sagte sie. »Tue ich das nicht immer?«
    Eine Welle spülte über Cassies Füße, eisig und authentisch. Der Zauber brach. Plötzlich saßen sie wieder einfach am Strand, sie und Alex, und plötzlich schien das ganz in Ordnung zu sein. »Ich wollte dich bestechen«, sagte Alex. »Ich hab’ dir was gemacht.« Er lächelte sie an, und zaghaft erwiderte sie sein Lächeln. Er weiß es. Er weiß, daß ich ganz in seiner Hand bin. Er zog sein Hemd hoch, und ein säuberlich eingewickeltes, viereckiges Päckchen kam zum Vorschein, das er in den Bund seiner Jeans gesteckt hatte. »Für dich.«
    Cassie nahm das Alupäckchen, bemüht, nicht auf die glatten, gut ausgebildeten Muskeln auf seiner Brust zu starren. Sie packte es aus. »Du hast mir einen Marshmallowfladen mit Rice-Crispies gemacht? Ist das meine Leibspeise?«
    »Nein.« Alex lachte. »Um die Wahrheit zu sagen, du haßt Marshmallows, aber das ist das einzige, was ich backen kann, und ich war sicher, daß du dich daran erinnern und Mitleid mit mir haben würdest.« Er nahm ihr die Marshmallows aus der Hand und biß hinein. »Ich bin damit aufgewachsen«, erklärte er mit vollem Mund.
    Mit glänzenden Augen sah Cassie ihn an. »Alex«, fragte sie, »wo bin ich aufgewachsen?« Maine. Sie wußte die Antwort, noch ehe er sie aussprach. »Und wer war Connor?«
    Alex’ Augen wurden so groß, daß sie den goldenen Ring um seine Iris sehen konnte. »Dein bester Freund. Woher weißt du - hast du dich daran erinnert?«
    Sie strahlte vor Freude. »Ich habe die ganze Zeit geträumt«, erklärte sie. »Mir ist eine Menge wieder eingefallen. Moosehead Lake und Connor und… und meine Mutter. Besuchen wir sie manchmal? Sehe ich meine Eltern oft?«
    Alex schluckte. »Deine Mutter ist tot, und, also, als wir uns kennenlernten, hast du mir erzählt, du wärst extra in Kalifornien aufs College gegangen, um so weit wie möglich von Maine wegzukommen.«
    Cassie nickte, als habe sie nichts anderes erwartet. Wieviel wußte Alex wohl über ihre Eltern? Sie fragte sich, ob sie je den Mut aufgebracht hatte, ihm alles zu erzählen. »Wo leben deine Eltern?«
    Alex rollte von ihr weg und schaute auf den Ozean. Sie sah, wie sein Profil erstarrte – genauso sah er aus, kurz bevor er eine Szene drehte, wenn seine eigene Persönlichkeit verblaßte und von der Rolle ersetzt wurde, die er spielen sollte. »Sie leben in New Orleans«, sagte Alex. »Wir sehen sie auch nicht oft.« Er rieb mit der Hand über den Nacken und schloß die Augen. Cassie fragte sich, was er wohl sah, wieso er sich so zurückzog. Zu ihrer Überraschung spürte sie ein scharfes Stechen in der Brust, und im gleichen Moment wußte sie, daß sie seinen Schmerz auf sich genommen hatte, damit er ihn nicht zu spüren brauchte. Als Alex sie ansah, schwebten immer noch die Geister der Vergangenheit in seinem Blick. »Du erinnerst dich wirklich nicht an mich, nicht wahr?« sagte er leise.
    Er war Zentimeter von ihr entfernt, aber sie spürte die Wärme zwischen ihnen, als würden sie sich berühren. Cassie legte den Arm um ihn und erschauderte, als sie noch mehr von seinem Schmerz auf sich lud. »Nein«, antwortete sie. »Wirklich nicht.«
    Als Abendessen machten sie sich Popcorn in der Mikrowelle, dann schauten sie einen alten Monty-Python-Film im Fernsehen an. Sie spielten »Mau-Mau« mit einem alten Kartenspiel, das sie ganz hinten im Besenschrank ausgegraben hatten. Mit einem Kissenbezug als Wimpel auf dem Kopf rezitierte ihr Alex den »Fort! verdammter Fleck!«-Monolog der Lady Macbeth und verbeugte sich bis auf den Boden, als Cassie lachte und klatschte.

Weitere Kostenlose Bücher