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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Ihre Augen leuchteten, als er von dem freigeräumten Kaffeetisch sprang, der ihm als Bühne gedient hatte. Sie kannte Alex zwar nicht, aber sie hatte ihn gern. Bestimmt mußten sich viele Ehefrauen mit weniger zufriedengeben.
    Alex zog sie vom Boden hoch. »Müde?«
    Cassie nickte und ließ zu, daß er den Arm um ihre Taille legte. Während sie die Treppe zum Schlafzimmer hinuntergingen, überlegte sie, wo sie wohl beide schlafen würden. Sie waren verheiratet, also konnte er schlafen, wo es ihm gefiel; aber andererseits hatte sie erst einen Tag gehabt, um ihn wieder kennenzulernen, deshalb hielt sie es durchaus für möglich, daß er so galant sein und ihr anbieten würde, die Nacht in einem Gästezimmer zu verbringen. Sie wußte nicht, ob sie das wollte.
    An der Tür zum großen Schlafzimmer blieb Alex stehen. Cassie machte einen Schritt zurück und preßte die Arme an den Körper. Sie brachte es nicht fertig, Alex in die Augen zu blicken, dessen Fragen selbst in der Stille schwer in der Luft hingen.
    Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hauchte ihr einen Kuß auf die Lippen. »Gute Nacht«, sagte er, dann ging er ein paar Türen weiter zu einem Gästezimmer.
    Cassie schaute ihm eine Weile nach, trat dann ins Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. Sie zog sich das Hemd über den Kopf, schlüpfte aus ihren Shorts und schleuderte sie auf ihrem Weg ins Badezimmer auf das Himmelbett. Vor den Spiegeln, die eine ganze Wand neben dem Waschbecken einnahmen, streifte sie die Unterwäsche ab. Sie legte die Hände auf ihre Brüste und betrachtete stirnrunzelnd den kleinen, rundlichen Bauch. Sie konnte sich nicht vorstellen, wieso Alex Rivers sich ausgerechnet in sie verliebt hatte.
    Sie untersuchte die Flaschen und Gläser auf dem Sims über dem Waschbecken - Reinigungslotionen und Peelingcremes und Gesichtswasser, die anscheinend zu gleichen Teilen Alex und ihr selbst gehörten. Sie hatte sich das Haar gekämmt und das Gesicht gewaschen, als sie merkte, daß keine Zahnpasta da war. Dafür gab es zwei Zahnbürsten - eine grüne, eine blaue -, und sie hatte keine Ahnung, welche ihr gehörte.
    Sie schaute in den eingelassenen Wandschränken nach, fand aber nichts außer pfirsichfarbenen Handtüchern und zwei dicken Frotteebademänteln. Sie schlüpfte in einen und rieb mit den Händen über das schwere Gewebe. Vielleicht hatte Alex ja in seinem Bad Zahnpasta, und ganz bestimmt würde er seine Zahnbürste haben wollen.
    Sie wußte nicht, in welchem Zimmer er war, und wollte schon an eine Tür klopfen, als sie ihn weiter unten im Gang sprechen hörte. »Das Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild.« Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und im Badezimmerspiegel sah sie Alex mit leeren Augen am Waschbecken stehen. »Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht, sein Stündchen auf der Buhn’«, rezitierte er. Seine Stimme war nur ein Flüstern. »Und dann nicht mehr vernommen wird.«
    Atemlos krallte Cassie die Finger um die Zahnbürsten und lehnte sich in den Türrahmen, um besser sehen zu können. Das war nicht Alex. Er hatte sich in einen gebrochenen Mann verwandelt, einen Mann, der erkannte, was nach seinem Tode von ihm bleiben würde – ein Aufblitzen in der Erinnerung eines anderen, und danach gar nichts mehr.
    Cassie kämpfte gegen den Drang an, die Tür aufzustoßen und ihm mit ihrer Hoffnung Halt zu geben. Diesen neuen Fremden kannte sie nicht, sie kannte ihn noch weniger als Alex; aber sie begriff, daß sie hier war, um ihm zu helfen.
    Ihr fiel ein, was Alex auf dem Revier gesagt hatte und wie verängstigt er geklungen hatte: Du weißt ja nicht, wie schrecklich es war, dich zu verlieren. Und sie begriff, daß der berühmte Alex Rivers genauso verletzlich war wie jeder andere.
    Cassie trat einen Schritt vor, und Alex öffnete die Augen, sah sie im Spiegel. Er war wieder Alex, und er lächelte, aber in den dunklen Tiefen seiner Augen konnte sie immer noch das Entsetzen des vor Angst gelähmten Macbeth sehen. Ob er wohl immer so gewesen war – ob jede Rolle ein winziger Teil von ihm wurde? Sie wußte, daß Schauspieler für ihre Arbeit aus ihren persönlichen Erfahrungen schöpfen und sie ausschmücken mußten, und der Gedanke, daß Alex so viel Verzweiflung in sich trug, wollte ihr schier das Herz zerreißen. »Woher kommt er? Dieser Schmerz?«
    Er starrte sie an, erschrocken über ihr Zweites Gesicht. »Aus mir selbst.«
    Sie bewegte sich zuerst, oder vielleicht auch er, aber dann hielt er sie, öffnete

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