Auf den zweiten Blick
den Gürtel ihres Bademantels, fuhr mit den Händen über ihre Haut. Die Zahnbürsten klapperten zu Boden, und Cassie grub ihre Finger in sein Haar, barg ihr Gesicht an seiner Schulter.
Zentimeter für Zentimeter fuhr sie mit ihren Händen über seinen Rücken, als würden sie eine Naht abtasten, und raffte den Stoff seines Hemdes zusammen, bis ihre Hände brennend heiß auf seiner Haut lagen.
Er küßte sie gierig, stieß mit ihr gegen Wände und Türrahmen, während er sie langsam zum großen Schlafzimmer zurückschob. Cassie fiel rückwärts aufs Bett, er schlug ihren schweren Bademantel zurück und preßte ihre Arme auf die Matratze, während der Mond auf ihrer Haut tanzte. Seine Zunge zeichnete ihr Kinn nach, die Mulde unter ihren Brüsten, die weißen Schenkel.
Cassie schlug die Augen auf. Wie im Traum sah sie seinen Körper über ihrem. Alex preßte die Lippen auf ihren Bauch. »So schön«, murmelte er.
Er spielt mir was vor.
Wie zuvor durchzuckte sie der Gedanke aus heiterem Himmel, und sobald er sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, begann sie sich zu wehren. Aber Alex’ Gewicht lastete auf ihr, preßte sie nieder. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie so ehrlich, daß sie zu zerspringen glaubte. Und dann fiel ihr der Bann wieder ein, den er an jenem Nachmittag über sie beide gelegt hatte, als er den Macbeth gesprochen hatte.
Und im Moment ihrer Vereinigung begriff Cassie, warum sie zueinander gehörten. Er erfüllte sie, und dafür befreite sie ihn von seinen Wunden. Cassie schlang die Arme um Alex’ Hals und bemerkte überrascht, daß ihr Tränen in den Augenwinkeln standen. Sie drehte das Gesicht dem offenen Fenster zu und atmete tief die süße Luft ein, in der sich Alex’ Geruch mit ihrem und dem des weiten Ozeans mischte.
Sie war gerade dabei, in den Schlaf zu sinken, als Alex’ Stimme über sie glitt. »Du brauchst dein Gedächtnis nicht wiederzufinden, Cass. Ich weiß, wer du bist.«
»Ach ja?« murmelte sie lächelnd. Sie legte Alex’ Arm über sich. »Und wer bin ich?«
Sie spürte den Frieden, den Alex ausstrahlte und der sich wie ein Segen über sie legte. Er zog sie zurück an seinen Körper, an den Platz, der wie für sie gemacht war. »Du bist meine andere Hälfte«, sagte er.
5
Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wäre Will Flying Horse ein Träumer gewesen.
Er war elf, als sich seine Augen mitten in der Nacht öffneten, sehend und nicht sehend zugleich. Es war Sommer, und draußen sangen die Zikaden unter dem stillen Halbmond. Aber in Wills Kopf gellte der Donner, und als seine Großeltern an sein Bett geeilt kamen, sahen sie, wie sich wütende blaue Blitze in seinen Pupillen spiegelten. Cyrus Flying Horse griff über die glühende Bettdecke seines Erikeis nach der Hand seiner Frau. »Wakan«, murmelte er. »Heilig.«
Viel hatte sich im Lauf der Jahre für die Sioux geändert, aber manche Dinge starben nur schwer. Cyrus war in einem Reservat geboren worden, er hatte die Entwicklung des Fernsehens und des Autos miterlebt und würde einen Monat später mit ansehen, wie ein Mensch auf dem Mond spazierenging. Aber er wußte auch noch, was ihm sein Vater über Sioux erzählt hatte, die Visionen hatten. Ein Donnertraum war mächtig. Wenn man ihn nicht beachtete, konnte man vom Blitz erschlagen werden.
Und so brachte Will Flying Horses Großvater ihn eines Morgens im Jahre 1969 zum Schamanen, Joseph Stands In Sun, um einen Träumer aus ihm zu machen.
Joseph Stands In Sun war älter als die Erde selbst, so ging jedenfalls das Gerücht. Er saß mit Cyrus und Will draußen auf einer langen, niedrigen Bank, die über die ganze Wandbreite seiner Holzhütte verlief. Während er sprach, schnitzte er, und Will verfolgte, wie das Holz in seiner Hand erst die Gestalt eines Hundes, dann die eines Adlers, dann die eines schönen Mädchens annahm; jedesmal, wenn die Hand des Schamanen es berührte, veränderte es sich. »In den Tagen meines Großvaters«, sagte Joseph, »suchte sich ein Junge wie du eine Vision, wenn er bereit war, zum Mann zu werden. Und wenn er vom Donner träumte, dann wurde er ein Heyoka.« Joseph warf Will einen Seitenblick zu, und zum ersten Mal bemerkte Will, daß die Augen des Alten anders waren als die aller Menschen, denen er bisher begegnet war. Sie hatten keine Iris. Nur schwarze, unergründliche Pupillen. »Weißt du das, Junge?«
Will nickte; sein Großvater hatte den ganzen Weg zur Hütte des Schamanen von nichts anderem
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