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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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geredet. Vor hundert Jahren waren die Heyokas so etwas wie Stammesclowns gewesen - Menschen, von denen man erwartete, daß sie sich seltsam benahmen. Manche gingen nur rückwärts, andere redeten in einer unverständlichen Sprache. Sie hüllten sich in Lumpen oder schliefen im Winter ohne Decke und im Sommer in dicken Büffelfellen. Sie tauchten ihre Hände in kochendes Wasser und zogen sie unversehrt wieder heraus. All das bewies, daß sie mächtiger waren als andere Menschen. Manchmal empfingen sie Botschaften von den Geistern, die eine Gefahr oder den Tod eines Stammesmitglieds ankündigten. Als Heyokas hatten sie die Macht, das zu verhindern; aber weil sie Heyokas waren, erhielten sie nichts zum Dank für ihre Mühe. Will hatte seinem Großvater geduldig zugehört und die ganze Zeit immer nur gedacht, wie froh er war, daß man 1969 schrieb.
    »Nun«, sagte Joseph Stands In Sun, »du kannst kein Heyoka werden; wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Aber du sollst deinen Donnertraum bekommen.«
    Drei Nächte darauf saß Will nackt in einer Schwitzhütte Joseph Stands In Sun gegenüber. Er hatte schon viele solche Hütten gesehen; manchmal bauten sich Teenager welche und rauchten in den engen, igluförmigen Gebilden Peyote, bis sie so high waren, daß sie nackt durch die Felder rannten und in eiskalte Bäche sprangen. Ab und zu stocherte Joseph in den glühendheißen Steinen, mit denen die Hütte geheizt wurde. Meistens sang oder betete er - Silben, die wie Seifenblasen anschwollen und vor Wills Augen zerplatzten.
    Als die Dämmerung sich über die Ebene heranschlich, wurde Will von Joseph auf ein Bergplateau gebracht. Überall wäre Will lieber gewesen als nackt über dieser Felsklippe, aber natürlich wollte er seinem Großvater oder Joseph Stands In Sun keine Schande machen. Achte die Alten; so hatte man es ihn gelehrt. Bibbernd tat Will, was man von ihm verlangte. Er stellte sich mit ausgebreiteten Armen in die Sonne, verharrte vollkommen reglos und versuchte das Flüstern des Grases unter Josephs Füßen zu ignorieren, als der Medizinmann wegging. Stundenlang stand er so, bis die Sonne wieder zu sinken begann, dann knickten seine Beine ein. Er rollte sich auf die Seite und begann zu weinen. Er spürte, wie der Berg zitterte und der Himmel schmolz.
    Am zweiten Tag kam aus dem Osten ein Adler angeflogen. Will sah ihn über seinem Kopfkreisen, so langsam, daß er minutenlang nur auf Armeslänge über ihm zu verharren schien. »Hilf mir«, flüsterte Will, und der Adler flog durch ihn hindurch. »Du hast ein schwieriges Leben gewählt«, rief er und verschwand.
    Vielleicht waren Stunden vergangen; vielleicht auch Tage. Will war inzwischen so hungrig und schwach, daß er die Luft in seine Lungen hineinpressen und wieder herauszwingen mußte. In den kurzen Momenten, in denen sein Kopf klar war, verfluchte er seinen Großvater, weil er an diesen Quatsch glaubte, und sich selbst, weil er sich so leicht überreden ließ. Er dachte an die Auswahlspiele für die Baseballmannschaft in der Schule im vergangenen Frühjahr, an den Playboy, den er unter seiner Matratze versteckt hatte, an den Duft der Ponds-Creme seiner Mutter, der ihm in der Nase kitzelte. Er dachte an alles mögliche, Hauptsache, es hatte nichts mit Sioux-Traditionen zu tun.
    Wir kommen, wir kommen. Die Worte fegten über die Ebene, schlangen sich um Wills Hals und zogen ihn auf die Beine. Direkt über seinem Kopf hing eine dunkle Gewitterwolke. Erschöpft, halb verhungert und halb im Delirium warf er den Kopf zurück, breitete die Arme aus und wünschte sich ein Opfer herbei.
    Als der Donner in seinem Kopf zu trommeln begann, merkte er, daß er nicht mehr auf dem Boden stand. Von hoch oben blickte Will herab und sah das Mädchen. Sie war klein und dünn, und sie lief durch einen Schneesturm. Immer wieder jagten die Blizzardwinde über sie hinweg und verbargen sie vor Wills Blicken. Er glaubte, daß sie vor jemandem oder etwas davonlief, aber dann sah er, wie sie stehenblieb. Mit ausgebreiteten Armen stand sie im Herzen des Sturms. Die ganze Zeit hatte sie versucht, das Zentrum zu finden.
    »Hilf ihr«, sagte Will und hörte, wie die Worte hundertfach um ihn herum widerhallten. Er stand wieder auf dem Boden. Er wußte, daß er sich an all das nicht erinnern würde. Er wußte, auch wenn er längst ein Mann wäre, würde dieser Alptraum immer wieder in den dumpfen Minuten nach dem Aufwachen am Rand seines Bewußtseins zerren.
    Als der Himmel zerbrach und der

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