Auf den zweiten Blick
Regen kam, brüllte Will in den Wind. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er, wie ein Blitz die Nacht zerriß und die Welt in zwei Hälften spaltete, die wie zerbrochene Schalen unter seinen Füßen schaukelten.
Sogar die Sonne liebte Alex. Cassie berührte sein Kinn mit dem Finger, wie hypnotisiert von der Entdeckung, daß der einzige Sonnenstrahl, der morgens in ihr Schlafzimmer drang, genau über seinen schlafenden Leib fiel. Sein Gesicht war dunkel, von Stoppeln überschattet, und dicht unter dem Kinn von einer winzigen, halbrunden Narbe gezeichnet. Cassie versuchte, sich zu entsinnen, wie es zu der Verletzung gekommen war. Sie sah, wie sich seine Augen unter den Lidern bewegten, und fragte sich, ob er wohl von ihr träume.
Vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, rollte sie sich aus dem Bett. Lächelnd schlang sie die Arme um ihren Leib. Zu Recht wurde sie von jeder Frau in Amerika beneidet. Jedwede Zweifel, die sie daran gehabt haben mochte, daß sie wahrhaftig mit Alex verheiratet war, waren verschwunden. Zwei Menschen konnten sich nicht so lieben, ohne eine gemeinsame Geschichte zu haben. Cassie lachte. Wenn ihr Herz in diesem Moment zu schlagen aufhörte, dann konnte sie behaupten, daß sie ein schönes Leben gehabt hatte.
Heute ist ein guter Tag zum Sterben. Die Worte ließen sie erstarren, und ein Schauer überlief ihren Körper, bevor ihr bewußt wurde, daß sie sie nur in ihrem Kopf gehört hatte. Noch leicht benommen tappte sie ins Bad, wo sie in den Spiegel starrte und ihre geschwollene Unterlippe betastete.
Eine Vorlesung. Es war der einleitende Satz in der Vorlesung eines Kollegen an der Universität gewesen. Cassie ließ die Hände auf das Marmorwaschbecken sinken und seufzte erleichtert, als sie begriff, daß sie es nicht mit einer Vorahnung, sondern mit einer echten Erinnerung zu tun hatte. Es war eine Vorlesung über die Kultur der amerikanischen Ureinwohner gewesen, und der Satz stammte aus dem rituellen Gebet, das die Krieger der Präriestämme gesprochen hatten, bevor sie in die Schlacht ritten. Cassie fiel ein, daß sie dem Professor später erklärt hatte, er verstehe es ausgezeichnet, seine Zuhörer in Bann zu ziehen.
Was Will jetzt wohl machte? Es war Donnerstag früh; wahrscheinlich war er auf dem Weg zur Arbeit. Er hatte ihr seine Telefonnummern gegeben. Vielleicht würde sie ihn später auf dem Revier anrufen und ihm erzählen, daß sie in Malibu in einem Schloß lebte und bald nach Schottland fliegen würde.
Cassie putzte sich die Zähne und kämmte dann das zerzauste Haar aus, darauf bedacht, alle Sachen so leise wie möglich auf die Ablage zurückzustellen, damit Alex nicht aufwachte. Auf Zehenspitzen schlich sie zurück ins Schlafzimmer, wo sie sich auf einen Stuhl in der Ecke setzte.
Alex schnarchte leise. Eine Weile beobachtete sie, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, dann stand sie auf und ging an den begehbaren Schrank an der Wand gegenüber, in dem seine Sachen waren. Sie zog die Tür auf und hielt den Atem an.
Alex’ Garderobe war zwanzigmal ordentlicher als ihre. Ganz unten standen auf kleinen Schuhablagen säuberlich aufgereiht Mokassins, italienische Stadtschuhe und schwarze, elegante Abendschuhe. In einem Hängeregal lagen wie in einem Schaufenster korrekt zusammengefaltete Pullover - Shetland und Norweger auf der einen Seite, Baumwolle auf der anderen. Seine Hemden baumelten steif über Zedernholzbügeln. Ein Wäschekasten in der Ecke des begehbaren Schrankes war mit säuberlich gefalteten Seidenboxershorts und Socken ausgelegt - in verschiedene Schubladen sortiert, je nach Anlaß.
»Mein Gott«, hauchte Cassie. Sie fuhr mit dem Finger über die aufgehängten Hemden und lauschte der Melodie der klappernden Kleiderbügel. Einen ordentlich aufgeräumten Schrank konnte man durchaus erwarten, vor allem, wenn man eine gute Haushälterin hatte. Irgendwas jedoch - irgend etwas ließ diesen Schrank nicht ordentlich, sondern zwanghaft pingelig wirken.
Die Pullover. Sie waren nicht nur nach Material getrennt und adrett gefaltet, sie waren auch nach Farben sortiert. Wie ein Regenbogen. Selbst die gemusterten Pullover schienen nach ihrer Grundfarbe eingeordnet zu sein.
Eigentlich hätte sie lachen sollen. Schließlich war das so seltsam, daß es schon wieder komisch war. Über so etwas machte man Witze.
Statt dessen spürte Cassie, wie ihr Tränen über die Wangen rannen. Sie sank vor den aufgereihten Schuhen auf die Knie und weinte leise vor sich hin, einen
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