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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Pullover auf den Mund gepreßt, um jedes Geräusch zu ersticken. Sie krümmte sich zusammen, ihr Magen verkrampfte sich, und sie sagte sich, daß sie den Verstand verlor.
    Es war der Streß, unter dem sie in den vergangenen Tagen gestanden hatte, ermahnte sie sich, als sie die Tränen abwischte. Cassie ging zurück ins Bad und schloß die Tür. Sie ließ das Wasser laufen, bis es so kalt war, daß ihre Hände taub wurden, dann spritzte sie es sich ins Gesicht und hoffte, noch mal von vorne anfangen zu können.
    Seit Tagen redeten alle über den Blizzard. Er sollte am Freitag kommen, irgendwann nach drei Uhr. Es würde ein Jahrhundertsturm werden. Füllen Sie Ihre Badewanne mit Wasser, hatte man im Wetterbericht geraten. Legen Sie sich einen Vorrat an Batterien und Feuerholz an. Suchen Sie Ihre Taschenlampen zusammen.
    Nur eines hätte noch besser sein können, meinte Cassie: Wenn der Blizzard am Sonntag gekommen wäre, weil dann Montag die Schule ausgefallen wäre.
    Cassie kam in die Küche. Sie war den ganzen Nachmittag bei Connor gewesen, aber sie hatte ihrer Mutter versprochen heimzukommen, bevor die ersten Flocken fielen. Cassies Mutter hatte panische Angst vor dem Schnee. Sie war in Georgia aufgewachsen und hatte noch nie Schnee gesehen, bis sie nach ihrer Hochzeit nach Maine gezogen war. Statt sich praktisch für den Schneesturm zu rüsten - so wie Connors Mutter, die überall Kerzen aufgestellt und extra Milch eingekauft hatte, die sie in den Schneewehen lagern wollte -, saß Aurora Barrett mit angstgeweiteten Augen am Küchentisch, lauschte dem Wetterbericht in ihrem Transistorradio und wartete darauf, lebendig begraben zu werden.
    Für Aurora hatte ein Nordsturm nur ein Gutes: Er gab ihr Gelegenheit, ihrem Mann die Schuld an allem zu geben, was in ihrem Leben schiefgelaufen war. Cassie hatte von frühester Kindheit an mitbekommen, daß ihre Mutter Maine haßte, daß sie hier nicht leben wollte, daß sie nicht die Frau eines Bäckers sein wollte. Aurora träumte immer noch von einer Villa mit sanft geschwungenen Rasenflächen bis zum Fluß, von einer Lattenbank unter schattigen Kirschbäumen, von der schmelzenden Südstaatensonne. Oft kauerte Cassie still in einer dunklen Ecke, während ihre Mutter Ben anbrüllte, ob für ihn zehn lange Jahre am selben gottverlassenen Ort eigentlich immer noch »nur vorübergehend« seien.
    Meistens blieb ihr Vater ruhig und ließ Auroras Wutausbrüche stoisch über sich ergehen. Theoretisch war es tatsächlich seine Schuld: Er hatte Aurora versprochen, die Bäckerei zu verkaufen, sobald ein hübscher Profit dabei raussprang, und dann mit ihr in ihre Ecke zu ziehen. Aber die Bäckerei machte immer wieder Verluste, und im Grunde seines Herzens hatte ihr Vater gar nicht die Absicht, Neuengland zu verlassen. Während ihrer ganzen Kindheit hatte Ben Cassie nur einen einzigen Rat auf den Lebensweg mitgegeben: Bevor du dir überlegst, was du sein willst, überleg dir, wo du sein willst.
    Es schneite nicht an jenem Abend, bis Cassie ins Bett ging, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war die Welt verzaubert. Draußen schwappte ein weißes Meer bis an ihr Schlafzimmerfenster, und die Hügel und Schneewehen hatten die Landschaft so geglättet, daß sie fast ihren Orientierungssinn verlor. Sie holte sich einen Apfel und stopfte ihn in die Tasche, dann setzte sie sich an den Küchentisch, um die Stiefel anzuziehen.
    Sie hörte den Streit Wort für Wort, obwohl ihre Eltern oben im Schlafzimmer waren. »Verkauf die Bäckerei«, drohte ihre Mutter. »Ich weiß nicht, wozu ich sonst noch fähig bin.«
    Cassies Vater schnaubte. »Du hast doch schon längst alles getan, wozu du fähig bist!« Cassie fuhr zusammen, weil ein Windstoß weißen Schnee gegen das Küchenfenster blies. »Warum gehst du nicht einfach wieder zurück?«
    Zurück. Cassies Augen wurden groß. Lange blieb es still, bis auf das Heulen und Stöhnen des Sturmes. Dann hörte sie den Satz, mit dem ihre Mutter diese Szenen jedesmal beendete. »Ich fühle mich nicht gut. Gar nicht gut.« Und danach kam das unverwechselbare »Kling«, mit dem die Bourbonkaraffe auf Auroras Frisierkommode geöffnet wurde. Je mehr Aurora trank, desto weniger konnte Cassies Vater sie ausstehen. Es war ein Teufelskreis.
    »Herrgott«, preßte ihr Vater heraus, dann kam er die Treppe heruntergepoltert. Genau wie Cassie war er dick eingepackt und bereit, sich dem Blizzard zu stellen. Er kam kurz zu ihr herüber und legte ihr die Hand auf die

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