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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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diesem Tag die Spätschicht übernehmen sollte, hatte Will noch geschlafen, als ihn das Telefon aus seinem Donnertraum riß. »Frances Bean, Stadtbücherei«, sagte eine Stimme. »Wir haben das bestellte Material.«
    »Ich habe kein Material bestellt«, murmelte Will schlaftrunken und streckte den Arm aus, um den Hörer zurück auf die Gabel zu legen.
    «… Anthropologie.«
    Er hörte nur dieses Wort, schwach und leise, aber im nächsten Moment hatte er den Hörer wieder am Ohr.
    Die Bücherei war klein und dunkel und an diesem Donnerstagmorgen still wie ein Grab. Nachdem Will sich an der Theke ausgewiesen hatte, überreichte man ihm einen Papierstapel, der mit einem Gummi zusammengehalten wurde. »Danke«, sagte Will zu der Bibliothekarin und zog sich in eine Ecke zurück, um Cassies Artikel zu lesen.
    Zwei stammten aus wissenschaftlichen Zeitschriften. Der dritte war aus dem National Geographie und bestand aus Dutzenden von Fotografien. Auf allen war die erlauchte Dr. Cassandra Barrett an der Ausgrabungsstätte in Tansania zu sehen, wo sie die Hand entdeckt hatte. Will las den Abschnitt über die anthropologische Bedeutung der Hand und des dazugehörigen Steinwerkzeugs, erfuhr aber nichts, was Cassie ihm nicht schon erzählt hätte. Er überflog den Rest bis zu den Absätzen, die sich mit Cassie selbst beschäftigten.
    »Die junge Dr. Barrett - die man ihrem Aussehen nach eher für eine Studentin als für die leitende Wissenschaftlerin halten würde - gesteht, daß sie sich in einer schlammigen Lehmgrube wohler fühlt als im Vorlesungssaal.« Will sprach die Worte leise nach und betrachtete das Foto auf der Seite gegenüber, auf dem Cassie auf dem Boden hockte und einen langen, gelben Knochen abstaubte. Will übersprang den Rest bis zum letzten Satz: »Auf diesem, bis heute von Männern beherrschten Feld wird Dr. Barrett wohl bald eine führende Rolle einnehmen - das liegt auf der Hand.«
    »Aufgeblasener Affe«, murmelte er. Er wendete die Seite, suchte nach einem weiteren Bild von Cassie. Als er keins entdeckte, blätterte er zurück zum Anfang des Artikels. Auf Seite sechsunddreißig war die Hand selbst abgebildet, und daneben Cassies Hand zum Vergleich. Den Rest der Seite nahm ein weiteres Bild von ihr ein. Sie stand im Gegenlicht, mit der Sonne im Rücken, so, wie es die Fotografen vom National Geographie gern hatten, und ihr Kinn war ein winziges bißchen vorgereckt. Will legte den Daumen auf ihren Hals. Das Foto war zu dunkel, als daß man ihre Augen hätte sehen können. Er hätte alles dafür gegeben, ihre Augen zu sehen.
    Er fragte sich, wie eine Frau, die sich in der afrikanischen Savanne zu Hause fühlte, glücklich sein konnte, wenn sie bei irgendwelchen Premieren von Paparazzi gejagt wurde. Er fragte sich, wie eine Frau an einem Tag einen Artikel für ein wissenschaftliches Journal schreiben konnte, um am nächsten die Sensationspresse nach verleumderischen Artikeln über ihren Ehemann durchzublättern. Er überlegte, wie zum Teufel Alex Rivers Casandra Barrett kennengelernt hatte; was sie am Sonntagmorgen machten; worüber sie sich unterhielten, wenn sie nachts engumschlungen im Bett lagen und niemand sie hörte.
    Will ließ die Artikel auf dem Tisch liegen, alles, außer der einen Seite mit dem Bild von Cassie im Gegenlicht. Als sich die Bibliothekarin über ihren Computer beugte, faltete er Cassies Bild zusammen und stopfte es in die Hosentasche. Er spielte mit dem Gedanken, so damit heimzugehen, obwohl er wußte, daß das Papier weich werden und verbleichen würde, bis Cassies Gesicht kaum mehr zu erkennen war.

6
     
    Cassie öffnete die Tür des Apartments, und vor ihr stand die schönste Frau der Welt. Im ersten Moment konnte sie nicht anders, als die langen, glänzenden Haare zu bestaunen; die frühlingsgrünen Augen. Die Frau trug ein Seidenhemd, das dieselbe Farbe wie das Fruchtfleisch einer Wintermelone hatte, dazu ein Kaschmirbarett und als Rock ein riesiges, zweimal um die Hüfte geschlungenes Tuch. »Ist das zu fassen, Cass?« Die dünne, nasale Stimme paßte überhaupt nicht zu der übrigen Erscheinung. Die Frau quetschte sich an Cassie vorbei und hielt den rechten Arm mit dem linken vor sich hin, als wolle sie ihn am liebsten loswerden.
    Der Arm war vom Ellbogen bis zum Handgelenk in schwarzen Gips verpackt. »Und jetzt verrat mir«, jammerte die Frau, »was ich wegen Clorox unternehmen soll.«
    »Clorox?« murmelte Cassie und stolperte hinter der Fremden die Treppe hinauf in die

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