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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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drehte sich um. »Geh dein Geld verdienen«, sagte sie lächelnd. »Wenn ich in einer Stunde nicht wieder da bin, dann laß mich von der Nationalgarde suchen.«
    Als Alex weg war, stellte sich Cassie an die offene Balkontür und schaute über die Vororte von L. A. und die dunstblauen Berge. Ein Gärtner, den man ihr noch nicht vorgestellt hatte, jätete in einem Lilienbeet Unkraut, und auf der Auffahrt polierte John die hintere Stoßstange des Range Rovers. Sie entdeckte ihr Labor, gleich links neben einem üppigem Blumenbeet in Form einer bourbonischen Lilie. Hinter dem französischen Garten führte ein weißer Kalksteinweg hügelabwärts aus ihrem Blickfeld.
    Sie flog die zweite Treppe hinunter, die, auf der sie nicht nach oben gegangen war, nur um auszuprobieren, ob sie irgendeinen Unterschied merkte. Sie ging zur. Tür hinaus und setzte sich in einen Schaukelstuhl und dann in die Hängeschaukel auf der Veranda, bevor sie wie ein Kind den Kalksteinweg hinunterrannte. Als sie weit genug vom Haus weg war, um sicher zu sein, daß niemand sie sah, breitete sie die Arme aus, streckte das Gesicht der Sonne entgegen und drehte sich lachend und singend und tanzend im Kreis.
    Sie entdeckte einen Naturteich mit künstlichem Wasserfall, den Alex zu erwähnen vergessen hatte, und ein richtiges Labyrinth aus dichten Buchsbaumhecken. Sie spazierte hinein, um zu sehen, ob sie bis in die Mitte und wieder hinausfinden würde. Die scharfen Ecken des Labyrinths flogen an ihr vorbei, als sie die schmalen Pfade entlanglief, ohne darauf zu achten, daß sie sich die Arme an den frischgestutzten Zweigen aufschürfte. Benommen ließ sie sich ins kühle Gras sinken. Sie lag auf dem Rücken, überwältigt von Alex’ Haus und Alex’ Garten.
    Wenn nicht ein Käfer über ihren Arm gekrabbelt wäre, hätte sie den Stein bestimmt nicht bemerkt. Sie rollte zur Seite und auf Augenhöhe der abgeschnittenen Buchsbaumzweige. Tief unter der Hecke versteckt lag ein kleiner, rosa Brocken.
    Er war nicht oval, nicht wirklich, dazu war er zu grob behauen und zu schief. Cassie schob den Arm in das Geäst, bis sich die Zweige wie Armbänder um ihre Handgelenke legten. Es war ein Rosenquarzstein, und sie hatte ihn von der Ostküste mitgebracht. Auf der flachsten Seite waren unbeholfen die Buchstaben CCM und das Jahr 1976 eingemeißelt.
    Sie wußte nicht mehr, warum sie ihn unter den Buchsbäumen mitten in Alex’ Labyrinth versteckt hatte. Sie wußte nicht mehr, ob sie Alex je verraten hatte, daß er hier lag. Aber ihr war klar, daß dies der erste Beweis war, dem sie wirklich glaubte; das erste überzeugende Indiz, seit sie ihr Gedächtnis verloren hatte, daß sie einst hierhergehörte.
    Cassie drehte sich auf den Rücken und drückte den Stein an ihre Brust. Sie starrte in die Sonne, bis diese märchenhafte Welt, die Alex ihr zu Füßen gelegt hatte, schwarz wurde. Und dann flüsterte sie Connors Namen.
    Am 1. November 1976, kurz nach sieben Uhr morgens, marschierte Connors Vater in die Küche, wo Connor und seine Mutter frühstückten, und erschoß beide mit einem .12-Kaliber-Gewehr. Bis Cassie die Polizei alarmiert und durch den Wald zu Connors Haus gerannt war, hatte es Mr. Murtaugh schon geschafft, die Waffe gegen sich selbst zu richten.
    Connors Vater hatte sich bis ins Wohnzimmer geschossen, aber Mrs. Murtaugh lag noch auf dem Küchenboden. Ihr Hinterkopf war weg. Connor war halb über sie gefallen, und wo seine Brust gewesen war, klaffte ein riesiges Loch.
    Mit einer Ruhe, die nur durch den Schock zu erklären war, kniete Cassie neben Connor nieder und zog seinen Kopf auf ihren Schoß. Sie legte ihre Finger auf seine noch warmen Lippen. Sie überlegte, ihn zu küssen, so wie gestern abend, brachte es aber nicht über sich.
    Die Polizei und die Sanitäter schleiften sie von Connors Leiche weg. Sie saß in der Küchenecke, eine grobe Wolldecke um die Schultern gelegt, und beantwortete immer und immer wieder die gleichen Fragen. Nein, sie war nicht dabeigewesen, als es geschah. Nein, sie hatte Mr. Murtaugh heute morgen nicht gesehen. Nein, nein, nein.
    Jeder wußte, wie nahe Cassie und Connor sich gewesen waren, deshalb gab ihr die Schule bis nach der Beerdigung frei, aber sie hörte das Getuschel trotzdem. Er soll den Abzug mit dem Zeh durchgedrückt haben, als er sich selbst erschoß. Hat keinen Job gefunden und ist an der Flasche hängengeblieben. Einen unschuldigen Jungen umzubringen, einfach so, in der Blüte seiner Jugend! Bei ihr zu Hause waren

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