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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Jungen aus der falschen Seite der Stadt reizte.
    Genausowenig merkte Lila Riveaux, daß ihr Mann nicht da war. Die meiste Zeit schlief sie, vollkommen abgeschottet in einem wattigen Valiumnebel und so benommen, daß sie nicht mehr zu sagen vermochte, welcher Wochentag war, ganz zu schweigen davon, an welchem Andrew aufzutauchen beliebte. An jenem Nachmittag, an dem Alex im Wohnwagenpark vorbeischaute, um nach ihr zu sehen, war sie so blaß und leblos, daß er sich dazu zwang, ihren Puls zu fühlen.
    Alex war in der Kochnische und schnitt Gemüse, das er in eine Dosensuppe geben und zum Abendessen servieren wollte, als er draußen seinen Vater lachen hörte. Sein Vater hatte zwei Arten von Lachen: ein gemeines, das einen erniedrigen sollte, und ein falsches, mit dem er sich einschmeicheln wollte. Das hier gehörte zur zweiten Sorte, und nach einer winzigen Pause, während der sich Alex in den Finger schnitt, widmete er sich wieder seiner Aufgabe.
    Andrew Riveaux hatte jemand mitgebracht. Alex lauschte den schweren Schritten, der grollenden Stimme. Er hörte, wie sein Vater die Schiebetür zum einzigen Schlafzimmer aufschob und Lilas Namen brüllte.
    Alex trat aus der Küche, gerade als sein Vater den fetten, aufgedunsenen Mann auf Lila zuschob, die bewußtlos auf dem Bett lag. Er sah, daß die Goldkette und das Kruzifix seines Vaters weg waren, daß seine Haut gelb war vom Saufen. Er beobachtete, wie der Fremde sich über seinen dicken Bauch strich und sich dann an Andrew wandte. »Wird sie aufwachen?« fragte er, und in diesem Augenblick begriff Alex, wieviel sein Vater verloren hatte.
    Alex stand dabei, als sei er Zeuge eines tobenden Brandes, wie hypnotisiert und gebannt vor Entsetzen. Er wußte, daß er sich bewegen oder sich bemerkbar machen mußte, und begriff zugleich, daß er nicht einmal mehr dazu fähig war. Sein Atem kam in heiseren, abgehackten Stößen, und schließlich fiel ihm das Küchenmesser aus der Hand.
    Andrew, der eben die Falttür zum Schlafzimmer zuschob, hielt inne. Er sah Alex an. »Sie merkt es gar nicht«, sagte er, als würde das alles entschuldigen.
    Mit dem ersten Schlag ließ er seinen Vater zusammenklappen. Mit dem zweiten brach er ihm die Nase. Die Schlafzimmertür wurde geöffnet, und der Fremde stand mit großen Augen und in Boxershorts vor ihm. Er schaute auf Alex, auf seinen Vater, wieder auf Alex. Schließlich zielte er mit dem Finger auf Andrew. »Du bist mir was schuldig, du Arschloch«, brüllte er, dann zog er seine Hosen hoch und polterte aus dem Wohnwagen.
    Mit dem dritten Schlag schickte Alex seinen Vater in eine Nippesvitrine, die Lilas ganzer Stolz gewesen war. Andrew Riveaux traf mit dem Hinterkopf auf der Ecke auf, und eine Wunde klaffte, aus der ihm das Blut durch die Finger rann. Er wurde bewußtlos, aber nicht, ehe er seinen Sohn angelächelt - angelächelt - hatte. Er sprach die Worte nicht aus, aber Alex hörte sie trotzdem: Mann, Scheiße. Du kannst ja kämpfen.
    Hinter der halboffenen Schiebetür konnte Alex seine Mutter sehen. Ihre Bluse war offen, der BH nach oben geschoben, so daß er ihr in den Hals schnitt, und die Brustwarzen ragten rot und nackt und obszön hervor. Sie hatte überhaupt nichts mitbekommen.
    Er steckte das Geld wieder in die Tasche, das er seiner Mutter auf dem Küchentisch dalassen wollte. Dann starrte er auf seinen Vater, bis das Blut aus der Kopfwunde an seinem Schuh leckte. Er wartete auf irgendein Gefühl: Reue, Verzweiflung, Erleichterung; aber er empfand überhaupt nichts, so als habe der Mann, der diese Tat begangen hatte, überhaupt nichts mit ihm zu tun.
    Und selbst nachdem er erfahren hatte, daß sein Vater, dieser Scheißkerl, an jenem Tag nicht gestorben war, gestand sich Alex jahrelang nicht ein, daß die Erinnerung, die ihm die ganze Zeit über geblieben war, weder der Klang der knirschenden Knochen noch der Geruch des Blutes auf dem billigen, feuchten Teppich war – sondern die Tatsache, daß er, als er es am wenigsten darauf angelegt hatte, für einen Moment genau die Art Sohn geworden war, die sich Andrew Riveaux immer gewünscht hatte.
    Alex stand auf und begann mit dem Sektkorken zu kämpfen. Noch während er aufstand, spürte ich, wie er den Teil seines Wesens abschottete, den er mir eben offenbart hatte, und sich wieder in den Filmstar verwandelte. »Wissen Sie, ich bin jetzt seit sieben Jahren in dem Geschäft, und ebensolange stehle ich nun schon die Reaktionen und die Erfahrungen meiner Freunde und meiner Familie

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