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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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beobachtete ich, wie Alex in seine Rolle schlüpfte. Das Licht in seinen Augen erlosch, und sein Körper erschlaffte, als würde er leergesaugt. Und dann, gleich darauf, schlängelte sich neue Energie durch seinen Körper, richtete sein Rückgrat auf, blitzte aus seinen Augen. Aber sein Gesicht war nicht mehr dasselbe. Wirklich, wäre ich ihm auf der Straße begegnet, ich hätte ihn nicht erkannt.
    Er bewegte sich anders. Er ging anders. Er atmete sogar anders. Wie ein müder alter Mann schlurfte er über die Ebene, ließ sich mühsam in die Grube hinunter. Er zog Pickel und Pinsel aus seiner Tasche und begann zu graben. Ich lächelte, als ich sah, wie meine ganz persönlichen Eigenarten vor laufender Kamera zum Leben erwachten: die Angewohnheit, immer von links nach rechts zu hacken, der gleichmäßige halbrunde Pinselstrich. Doch dann kam der Moment, in dem der Professor den Schädel des Skeletts entdeckt. Alex’ Hände wischten über den freigelegten Fleck, und er hielt inne. Seine Bewegungen wurden schneller, hektisch begann er die Erde wegzuhacken. Ein Knochenstück kam zum Vorschein, das ein Ausstatter vor wenigen Minuten dort verborgen hatte. Es war vergilbt und rissig, und automatisch beugte ich mich auf meinem Sitz vor, um besser sehen zu können.
    Alex Rivers schaute auf und sah mir direkt ins Gesicht, und in seinen Augen sah ich mich selbst. Seine Miene war genau wie meine in jenem verwirrenden Moment, als er seine Arme um mich gelegt hatte und aus dem Nichts ein Schädel im Sand aufgetaucht war. Ich erkannte mein Erstaunen, meine Freude, meine Verblüffung wieder.
    Mir wurde heiß. Ich zerrte an meinem Baumwollkragen und hob mir das Haar aus dem Nacken. Ich setzte die Baseballkappe ab und fächelte mir damit Luft zu. Ich wünschte mir, er würde mich nicht ansehen.
    Er warf den Kopf in den Nacken und streckte sein Gesicht der Sonne entgegen. »Mein Gott«, flüsterte er. Er sah haargenau aus wie ein Wissenschaftler, der erkennt, daß er die Entdeckung seines Lebens gemacht hat. Er sah aus, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan. Er sah aus wie - er sah aus wie ich.
    Seit Jahren arbeitete ich auf die anthropologische Entdeckung hin, mit der ich mir einen Namen machen würde. Immer und immer wieder hatte ich mir diesen Augenblick ausgemalt, so, wie sich die meisten Frauen ihren Hochzeitstag ausmalen: Wie mir die Sonne auf den Rücken brennen würde, wie meine Hände durch die Erde fahren würden, wie ich den glatten Knochen unter meinen Fingern spüren würde. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich mein Gesicht zum Himmel wenden würde, wie ich ein Dankgebet für dieses Geschenk flüstern würde. Obwohl ich mit niemandem darüber gesprochen hatte, am allerwenigsten mit Alex Rivers, hatte er die Szene genau so gespielt, wie ich sie mir erträumt hatte.
    Er hatte mir den wichtigsten Moment meines Lebens gestohlen, einen Moment, den ich noch nicht einmal erlebt hatte. Es war so ungerecht, daß ich aufsprang, sobald der Regisseur »Gestorben« rief. Ich konnte das Klatschen und Pfeifen der Crew kaum hören, so sehr dröhnte mir der Schädel. Wie kann er es wagen, dachte ich. Er hatte gesagt, er wolle mich nur beim Graben beobachten. Er hatte kein Wort davon gesagt, daß er meine Miene, meine Empfindungen nachäffen wollte. Es war, als habe er sich in meinen Kopf gestohlen und in meinen Träumen gewühlt.
    Ich lief zum Ruhezelt, in dem Pritschen, elektrische Ventilatoren und Karaffen mit Eiswasser standen. Ich tunkte ein Papiertuch in eine Schüssel und ließ mir das Wasser über den Hals laufen. Es rann durch das Tal zwischen meinen Brüsten, über meinen Bauch, unter meinen Hosenbund. Ich beugte mich über die Schüssel und spritzte mir noch eine Handvoll ins Gesicht.
    Er kannte mich so gut. Er kannte mich besser als ich selbst.
    In der Ferne hörte ich, wie Bernie Roth entschied, daß diese eine Aufnahme reichen würde, da Alex unmöglich noch besser sein konnte. Ich schnaubte und warf mich auf eine Pritsche. Ich hatte mich durch einen Vertrag gebunden; ich würde ihn erfüllen. Ich würde Alex Rivers alle technischen Tricks verraten, die er wissen wollte; ich würde ihn wissen lassen, was er für Requisiten brauchte und was im Drehbuch falsch war. Aber ich würde ihn nicht in meine Nähe lassen, und ich würde ihm niemals meine Gefühle offenbaren. Einmal hatte ich das zugelassen, weil er mich überrascht hatte, aber noch mal würde mir das nicht passieren.
    Ich schlief ein, und als ich wieder

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