Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
Vater kommt mich holen.«
    Der Polizist bot ihm an, noch mal anzurufen, aber Alex schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, daß der Polizist, in dem er inzwischen einen Verbündeten sah, die Lage begriff - daß sein Vater ihn sehr wohl abholen konnte, aber einfach nicht wollte.
    Alex wußte nicht, ob sein Vater ihn absichtlich hängenließ oder ob er einfach was Besseres zu tun hatte - Langusten fangen, trinken, als fünfter Mann in eine Pokerrunde einsteigen. Seine Mutter wäre vielleicht gekommen – das versuchte sich Alex wenigstens einzureden –, aber selbst wenn seine Mutter nüchtern genug gewesen wäre, um zu begreifen, daß Alex auf der Polizeiwache war, ihr Ehemann hätte sie nicht gehen lassen.
    Alex ließ den Kopf auf die Armlehne sinken und schloß die Augen.
    Kurz nach drei Uhr morgens weckte ihn starker Parfümduft. Er schaute auf und sah eine Hure auf dem Stuhl neben seinem sitzen. Sie hatte kirschrotes Haar und mahagonifarbene Haut und Wimpern so lang wie sein kleiner Finger. Sie trug eine Jettperlenkette, die sich um ihre eine Brust schlang, wie um sie noch hervorzuheben. Sie kaute Kaugummi - Traube - und hielt eine Faustvoll Geld.
    Sie war die schönste Frau, die ihm je begegnet war.
    »Hi«, sagte sie zu Alex.
    »Hi.«
    »Ich hole meine Freundin ab«, erklärte sie ihm, als wolle sie sich dafür rechtfertigen, daß sie hier saß. »Wieso bist du angekettet?«
    »Ich bin ausgeflippt und habe meine ganze Familie erwürgt«, anwortete Alex, ohne mit der Wimper zu zucken. »Und es war keine Zelle mehr frei.«
    Die Hure lachte. Sie hatte ein großes, weißes Pferdegebiß. »Du bist niedlich«, meinte sie. »Wie alt bis du? Zehn? Elf?«
    »Fünfzehn«, log Alex.
    Die Frau grinste. »Und ich bin Pat Nixon. Was hast du angestellt?«
    »Geklaut«, murmelte Alex.
    »Und dafür behalten sie dich die ganze Nacht da?« Sie zog die Brauen hoch.
    »Nein«, gab Alex zu. »Ich warte darauf, daß mich jemand abholt.«
    Die Hure lächelte. »Das kenn’ ich nur zu gut, Baby.«
    Eigentlich hatte er ihr gar nichts erzählt; nichts über seine Familie, nichts darüber, wie lange er schon da saß oder daß er lieber ein Jahr lang an den Stuhl gekettet geblieben wäre, als sich eingestehen zu müssen, daß der Mann, der ihn morgen mittag im Revier abholen würde, tatsächlich sein Vater war. Er kannte sich mit Huren aus; er wußte, daß sich die Männer auch zu ihnen hingezogen fühlten, weil es einer Hure egal war, wieviel Gepäck einer mit sich rumschleppte, und weil sie einen Mann glauben ließ, daß er mehr darstellte, als er tatsächlich war. Er wußte, daß sie davon lebten, Gefühle vorzuspielen, die sie nicht empfanden. Trotzdem kam es ihm ganz natürlich vor, als sie ihren Arm um ihn legte und ihn an ihre Brust zog, so als säßen sie nicht auf zwei verschiedenen Stühlen.
    Alex bettete seine Wange auf ihren Busen, dachte an die Blonde an der Kasse und ignorierte das Kribbeln in seinem angeketteten Arm, der tot in der Kluft zwischen ihren Stühlen hing. Es dauerte nur eine Viertelstunde, bis ihre Freundin unten aus der Zelle gelassen wurde und fauchend und zischend wie eine Wildkatze am Arm der Schließerin heraufkam. Aber in dieser Viertelstunde schloß Alex die Augen, sog den schweren Duft nach billigem Parfüm und Haarspray ein, den die Hure ausströmte, und ließ sich von ihr alte Spirituals vorsingen, bis die Welt im Nichts versank und er glauben konnte, daß jeder Mensch ein Recht auf Liebe habe.
    Völlig unerwartet wurden die Dreharbeiten für drei Tage unterbrochen, und Alex verschwand. Ich genierte mich zu sehr, um mich unter die Crew zu mischen, außerdem hatte ich meine Zeit fast ausschließlich mit Alex verbracht, deshalb hatte ich sowieso niemanden zum Plaudern. Ich blieb in meinem Zimmer in der Lodge, kam nur zu den Mahlzeiten heraus und aß allein. Ich spielte mit dem Gedanken, meinen Vertrag aufzulösen und nach L. A. zu fliegen, ehe Alex zurückkehren konnte.
    Doch statt dessen saß ich auf meinem Bett, las sämtliche Liebesromane, die ich mitgebracht hatte, und stellte mir vor, ich sei das schöne Mädchen und Alex mein Verehrer. Ich hörte den Helden in seinem Tonfall und mit seiner Stimme sprechen. Ich schwebte in den Wolken, bis ich nicht mehr auseinanderhalten konnte, was tatsächlich geschehen war und was ich mir nur eingebildet hatte, während ich mich durch die dunklen, kühlen Winkel der Nacht gelesen hatte.
    Eines Nachts, der Mond ging eben unter, drehte sich der Knauf an meiner

Weitere Kostenlose Bücher